Lucy Pollock: "Das Buch über das Älterwerden (für Leute, die nicht darüber sprechen wollen)"
Übersetzung von Ulrike Becker
DuMont Verlag, 2021
352 Seiten, 22 Euro
Altern ist nichts für Feiglinge
05:39 Minuten
Die britische Ärztin Lucy Pollock befasst sich seit Jahren mit dem Alterungsprozess und blickt dabei vor allem auf ältere Menschen, ihre Stärken, Sorgen und die offenen Fragen an das Leben. Auch die Angehörigen kommen bei ihr nicht zu kurz.
Verzweifelt klagt eine Tochter: "Meine Mutter kann Entfernungen nicht mehr richtig einschätzen. Das Auto ist schon mit Dellen übersät. Sie hat immer eine Dose Farbe im Handschuhfach, um die neuen Schrammen zu überdecken."
Altwerden ist nichts für Weichlinge, sagte die US-Schauspielerin Bette Davis brutal trocken. Entsprechend ungern wird über das Altern gesprochen. "Das Buch über das Älterwerden" der britischen Geriaterin Lucy Pollock soll nun Abhilfe schaffen. In der Tat gibt es wohl kaum etwas rund um das Älter- und Altwerden, das darin nicht zur Sprache kommt, ungewöhnlich offen und ohne falsche Scham: faulende Zähne und vollgepinkelte Betten, erschlaffende Sexualorgane und himmelschreiende Überdosierungen an Medikamenten, das schöne Ideal und die schnöde Realität von Patientenverfügungen, der lange und manchmal schrecklich kurze Weg in die Demenz, der Sterbeprozess – und, ja, sogar das Autofahren erhält sein eigenes Kapitel: alles über den Umgang mit alten Leuten, die trotz erheblicher Einschränkungen ihrer Sinnesleistungen das Steuer einfach nicht aus der Hand geben wollen.
Schieflagen des Gesundheitssystems
Zu all diesen Themen legt Lucy Pollock nicht nur aktuelles, studienbasiertes und erfahrungsgesättigtes Fachwissen auf den Tisch, sondern denkt immer auch die entscheidenden Metaebenen mit – persönliche Schamgrenzen, familiäre Redetabus, ärztliche blinde Flecken und systembedingte Schieflagen des Gesundheitssystems.
Denn, um beim Beispiel Autofahren zu bleiben, alles das spielt ja eine Rolle, wenn alte Menschen ihre selbstbestimmte Fortbewegung nicht aufgeben möchten – vom ausgedünnten öffentlichen Personennahverkehr, der alte Menschen ohne Auto irgendwo auf dem Land festtackert, über den Arzt, der sich nicht die Mühe macht, mit seinen Patientinnen und Patienten ausführlich auch einmal über das private Erleben zu sprechen, bis hin zum Sohn und der Tochter, die nie gelernt haben, den Eltern die Meinung zu sagen. Lucy Pollock denkt Medizin, Psychologie und Soziologie durchgehend zusammen – das macht ihre Einschätzungen, die sich nicht in Spiegelstrichlisten erschöpfen, sondern in einem langen Fließtext gelesen und nachvollzogen werden möchten, so ungewöhnlich und wertvoll.
Mitfühlend und engagiert
Und so kommt auch die andere Seite bei dieser Autorin nie zu kurz: Nachdrücklich betont sie in ihrem Buch, wie kreativ, tapfer, optimistisch und lebensklug Menschen bis ins höchste Alter bleiben können, wieviel Freude ihr Beruf ihr deshalb macht und was sie von ihren alten Patientinnen und Patienten im Laufe der Jahre gelernt und zurückbekommen hat.
Lucy Pollock packt so viel Erfahrung, Wissen, Unverblümtheit und Erzählfreude in ihren Text, dass es trotz des nicht immer ganz leichten Themas eine wahre Freude ist, mit ihren zahllosen Stories aus eigener Erfahrung und ihren Einschätzungen Zeit zu verbringen. Ein gründliches, mitfühlendes, überaus lebendiges und engagiertes "Buch über das Älterwerden" ist der Autorin gelungen. Es zeigt: In der Geriatrie und im persönlichen Umgang mit altwerdenden Angehörigen und dem eigenen Alterungsprozess können – und müssen – Wertschätzung und Realismus Hand in Hand gehen.