Ludger Schwarte: "Denken in Farbe. Zur Epistemologie des Malens"
August Verlag, Berlin 2020
424 Seiten, 28 Euro
Wie Farben die Wahrnehmung formen
06:15 Minuten
Farben sind wichtig für unser Wohlbefinden. Wie stark sie aber unsere Weltwahrnehmung und unser Denken prägen, wird häufig unterschätzt, sagt der Philosoph Ludger Schwarte. Er versteht Malen als Form der Erkenntnis.
Ob die Neandertaler gesprochen haben, wissen wir nicht. Aber sie haben bereits Farben hergestellt, um Höhlenwände zu bemalen. Am Anfang der Kulturentwicklung von Neandertaler und Homo sapiens steht Farbe.
Farbspuren als Weltaneignung
"Wenn man mal in so einer Höhle war, es gibt recht abstrakte Darstellungen dabei, die sehen aus wie Antennen. Und wenn man sich das anschaut, sieht man, dass diejenigen, die diese Farbspuren aufgebracht haben, damit eine Wirklichkeit gestalten wollten und nicht nur etwas abbilden. Es ist eine Form von Weltaneignung und gleichzeitig Gestaltung."
Damit zeige sich, so Schwarte, was für ein wesentliches Merkmal der Weltwahrnehmung Farbe ist. Dieser Bedeutung geht er in seinem neuen Buch "Denken in Farbe" nach, in dem er Malerei als Kulturtechnik untersucht. "Meine Frage war: Was erkenne ich von der Welt, indem ich sie färbe?"
Das heißt, Schwarte will nicht Kunstwerke anhand ihrer Farbigkeit erklären, sondern aufzeigen, dass die Gestaltung von Wirklichkeit in der Malerei vom Vorgang des Färbens abhängt. Das Bild entstehe erst durch die Interaktion der Farben auf der Leinwand, nicht im Kopf des Malers, so Schwarte.
Färben als Erkenntnistheorie
Wie sehr wir die Welt durch Färben erschließen, beschreibe anschaulich Walter Benjamin, "der sich für die Tatsache interessiert, dass Kinder anfangen, die Welt zu entdecken und die Fantasie auszubilden, indem sie schmieren, klecksen, mit Farbe hantieren. Die verstehen etwas über ihr eigenes Denken und über die Welt, indem sie das tun. Das geht nicht nur Kindern so, sondern es ging auch der ganzen Menschheit so."
Färben sei Erkenntnistheorie. In der Malerei entfalte sich diese Suche in ihrer experimentellsten Form. Trotzdem habe die abendländische Philosophie die Farbe lange wenig beachtet:
"Es gibt natürlich durch die Philosophiegeschichte immer wieder, angefangen von Platon und Aristoteles, Bemerkungen über Farben. Es gibt auch eine große Debatte über die Natur der Farben, die aber weitgehend davon ausgeht, Banane gelb, Tomate rot, dass also Gegenstände bestimmte Farben haben. Dass sie sekundäre Eigenschaften von Gegenständen sind."
Das Primat der Form in der Philosophie
Zumeist wurde ignoriert, wie sehr unsere Wahrnehmung von Gegenständen durch Farbe bestimmt ist. Stattdessen sei die Form ins Zentrum gerückt worden, sagt Schwarte: "Ich denke, das hängt damit zusammen, dass man Wirklichkeit und Körperliches seit Platon und Aristoteles für dasjenige hielt, was es auszustreichen galt, um zum Geistigen und damit zum Wesentlichen zu kommen. Farbe und Körperlichkeit hängen eben eng zusammen."
Prägend wirkte auch das Diktum von Descartes, dass die Zeichnung und nicht die Farbe das Entscheidende eines Bildes sei. Trotzdem weichte in der Neuzeit dieses Dogma vom Vorrang der Form langsam auf. Diderot erklärte, dass erst die Farbe Leben in ein Bild bringe; Maler wie Jan Vermeer begannen, der Farbe Autonomie zuzugestehen.
In Vermeers Bild "Die Spitzenklöpplerin" von 1670 sieht man rote Fäden wie Blut aus einem Kissen laufen und regelrecht aus dem Bild ragen. "Die Tatsache, dass Maler diese Farbe so stark betonen, die Plastizität der Farbe, die Tatsache, dass sie getrocknet ist, nicht flach ist, dass das betont wird in den Gemälden, ist faszinierend", sagt Schwarte.
Emanzipation der Farbe im Impressionismus
Die Gemachtheit des Bildes rückte in den Vordergrund und damit die Farbe in ihrer Substanz. Hegel nannte die Färbung die eigentliche Aufgabe der Malerei, in ihr komme die Subjektivität der Künstlerseele zum Ausdruck.
Der Impressionismus emanzipierte die Farbe dann endgültig, so Schwarte:
"Da ist einer der wichtigsten Momente, wo man anfängt, Farbe anders zu verwenden, also dass ich eine Zitrone nicht gelb male, sondern pink, dass ich nicht die durch die Wirklichkeit vorgegebene Farbe verwende, sondern dasselbe evoziere in einer anderen Farbe."
Die Wirklichkeit werde auf neue Weise interpretierbar, die Malerei breche Stereotype auf: "Deleuze sagt, der Anfang der Malerei ist nicht die weiße Fläche, sondern ist das Klischee. Die Zerstörung von Klischees ist die Aufgabe der Malerei."
Die politische Ambivalenz von Farben
Zentrales Moment sei dabei die Farbe, deren Ambivalenz in der modernen Malerei zu neuer Sichtbarkeit komme, erklärt Schwarte:
"Man kann Farben nicht im Singular, von einer Identität aus, denken. Die sind immer Übergang, Nuance. Das hat auch Bedeutung für hautfarbenen Rassismus, den wir immer noch erleben. Es gibt keine Farbe, die nicht gleichzeitig eine andere Farbe wäre."
Der Impressionist Cezanne ließ einzelne Farben durch Schattierungen zu einer Art vielstimmiger Sinfonie werden und betonte bewusst die Farbschichtungen des Gemäldes. Damit ließ er Ahnungen einer dahinterliegenden Tiefe hindurchschimmern, vergleichbar der Oberfläche eines Teiches. Das hat der Malerei neue Möglichkeiten eröffnet - bis hin zu Gerhard Richter, der so einen Zugang fand, sich künstlerisch mit dem Holocaust auseinanderzusetzen.
Farben verändern unsere Auffassungen
Richter wollte dem entgegenwirken, was Claude Lanzmann zu Fotografien über die Schoah gesagt hat: Sie würden den Betrachter vom Grauen abschirmen, statt ihn zum Hinsehen zu zwingen. Richter hat Fotos von Holocaustopfern übermalt, sodass die Ermordeten nur erahnt werden und – wie in einer Art Requiem – dadurch Präsenz gewinnen. Farbe wird zur existenziellen Erfahrung.
Wie sehr sie unseren Bezug zur Wirklichkeit prägt, beschreibt Ludger Schwartes Buch anschaulich. Man kann sich vorstellen, warum Höhlenmenschen Farbe nutzten, um ihre oft feindliche Umgebung nicht nur zu begreifen, sondern auch zu verwandeln.