Ludger Weß: "Winzig, zäh und zahlreich. Ein Bakterienatlas"

Haarige Plättchen, bewimperte Kügelchen, geißelbesetzte Stäbchen

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Buchcover von Ludger Weß "Winzig, zäh und zahlreich" Ein Bakterienatlas, vor einem Aquarell-Hintergrund
"Tiere und Pflanzen kommen und gehen, Bakterien bleiben", sagt Ludger Weß. © Matthes & Seitz Berlin / Deutschlandradio
Von Susanne Billig |
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Sie leben im Kühlwasser von Atomreaktoren oder im Darm von Zwergzikaden und können mitunter 40 Millionen Jahre lang schlafen – um dann dort weiterzumachen, wo sie ehemals aufgehört hatten. Ein neues, großartiges Buch gibt nun Auskunft über Bakterien.
Einige der erstaunlichsten, seltsamsten, nützlichsten und gefährlichsten Kleinstlebewesen der Erde stellt Ludger Weß in seinem Bakterienatlas "Winzig, zäh und zahlreich" vor. Ohne Anspruch auf biologische Vollständigkeit lässt sich der Wissenschaftshistoriker in seiner Auswahl ganz von persönlichen Präferenzen leiten. Schon als Kind hatte ihn die Leidenschaft für Bakterien gepackt: Beim ersten Blick durch ein Mikroskop in das wimmelnde Leben eines Wassertropfens war es um ihn geschehen.

Strahlenüberdauernde Schreckenskugel

"Deinococcus radiodurans – strahlenüberdauernde Schreckenskugel" heißt beispielsweise eines der Lebewesen, die er im Buch präsentiert. Es wurde in einer Zeit entdeckt, als Wissenschaftler noch eine naive Begeisterung für die friedliche Nutzung der Radioaktivität hegten und davon träumten, Lastwagen mit Atomreaktoren anzutreiben und die Ziffernblätter von Armbanduhren radioaktiv leuchten zu lassen.
1956 experimentierte ein Agrarwissenschaftler in den USA mit Gammastrahlen, um Fleischkonserven haltbar zu machen. Er bombardierte sie mit einer Strahlendosis, die einen Menschen umgehend ins Grab befördert hätte.
Dennoch blähten sich die Konserven nach ein paar Wochen auf und das Fleisch verdarb, denn Deinococcus radiodurans trieb darin sein Unwesen – ein Bakterium, das zeigt, wie Evolution in Rekordzeit gelingt und sich ein Kleinstorganismus an technische Umgebungen anpassen kann.
Die Schreckenskugel, so weiß man heute, überlebt sogar im Kühlwasserkreislauf von Atomreaktoren, weil sie über die Fähigkeit verfügt, ihr Erbgut in Rekordzeit zu flicken. "Während normale Bakterien zwei bis drei Schäden gleichzeitig ausbessern können, schafft die Schreckenskugel bis zu fünfhundert, darunter auch die normalerweise besonders fatalen Doppelstrangbrüche der DNA", schreibt Ludger Weß.

Abwechslungsreiche, lebendige Porträts

In abwechslungsreichen, lebendigen Porträts gelingt es dem Autor, einzelnen Bakterienarten tatsächlich so etwas wie eine persönliche Note zu verleihen und die unvorstellbar winzigen Lebensformen in eine Aura des Sympathischen und Faszinierenden zu tauchen: Minicystis rosea, das rosarote Bläschen, das mit seinen 14.000 Genen größer ist als jedes andere Bakterium auf diesem Planeten. Nasuia deltocephalinicola, die Zwergzikaden-Bakterie, die sich – kleiner als alle anderen – auf nur 137 Gene verlässt.
Lysinibacillus sphaericus mit dem längsten Schlaf aller Zeiten: 40 Millionen Jahre im Darm einer Biene, welche im Harz eines Baumes verschied und zu Bernstein wurde, bis Wissenschaftler das Bakterium wieder aufweckten. Chromulinavorax destructans, ein Zombiebakterium, das untot ohne Stoffwechselaktivitäten, ohne zu wachsen oder sich zu teilen, in Süßwasser dümpelt, bis eine Glanzalge es verschluckt. In deren Leib wird der Einzeller wieder lebendig, um die Alge von innen her aufzufressen.
Es ist eine wilde, fremde Welt, die sich hier auftut – kongenial illustriert von Falk Nordmann. Er zeigt die haarigen Plättchen, bewimperten Kügelchen und geißelbesetzten Stäbchen auf ganzseitigen farbigen Bildern auch optisch als echte Charaktertypen. Ein Star auch hier: die giftig rote Schreckenskugel, die gleich im Achterpack auftritt, durch schleimige Fäden verbunden. Großartig!

Ludger Weß: "Winzig, zäh und zahlreich. Ein Bakterienatlas"
Erschienen in der Reihe Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky
Mit Illustrationen von Falk Nordmann
Matthes & Seitz, Berlin 2020
280 Seiten, 25 Euro

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