Rebell aus dem alten Österreich
Er war einer der frühen großen Realisten der österreichischen Literatur: Ludwig Anzengruber zeigte in seinen Theaterstücken ungeschminkt soziale Missstände und griff die katholische Kirche an. Seine Utopie konnte er nur bis 1889 verkünden.
"Auweh, fängt scho' wieder so ein greisliger Tag an."
Dieser Satz gleich zu Beginn des Stücks "Gwissenswurm" führt tief hinein in die innere Welt von Ludwig Anzengruber – und in die äußere Welt des alten Österreichs, in die Anzengruber im November 1839 hineingeboren wurde, in der Alservorstadt von Wien. Das von einer seltsamen Mischung aus Aristokratie und Kleinbürgertum geprägte gesellschaftliche Leben der Stadt hatte der als Sohn eines niedrigen k.u.k.-Beamten aufgewachsene Junge von ganz unten erlebt.
Eine Buchhändlerlehre packte ihn nicht wirklich, so dass er Schauspielunterricht nahm und später jahrelang als Wanderschauspieler durch Österreich-Ungarn zog. Mehr als für grandiose Alpenkulissen interessierte sich Anzengruber fürs Milieu des dörflichen Landlebens, dafür, wie die Leute ihr Leben fristeten und wie sie seiner Beobachtung nach von den strengen Regeln der Kirche schikaniert und auch um ihr Leben betrogen wurden. In dem Stück "Das vierte Gebot" wird ein Priester ermahnt:
"Wenn du in der Schule den Kindern lehrst: Ehre Vater und Mutter!, so sag auch von der Kanzel den Eltern, dass s' danach sein sollen."
Die Wanderjahre als Schauspieler endeten in einem finanziellen Desaster, so dass Anzengruber nach Wien zurückkehrte und sein Brot als Kanzleischreiber der Polizei verdiente. Nebenbei folgte er aber auch dem Wunsch, selbst Literatur zu schreiben, versteckte sich allerdings noch unter dem Pseudonym Ludwig Gruber, als er einem Wiener Theater das Stück "Der Pfarrer von Kirchfeld" anbot.
Ein äußerst liberales Programm
Die Uraufführung 1870 war eine Sensation. Keines der damals üblichen, von Sentimentalität triefenden Volksstücke; stattdessen drückte sich darin eine beißende Gesellschaftskritik aus mit einem für die damalige Zeit äußerst liberalen Programm, das Anzengruber kurz und bündig auf die Parole brachte:
"Aus Gottesfreunden Menschenfreunde machen ..."
Mit den folgenden Stücken wie "Der Meineidbauer" oder "Die Kreuzelschreiber" avancierte er – auf zeitgenössischen Bildern zu sehen als stattlicher Herr mit Monokel-Brille und vollem Rauschebart – in der Nachfolge Ferdinand Raimunds und Johann Nestroys zu einem der berühmtesten Theaterautoren seiner Zeit. Wegen seiner Menschendarstellungen wurde er auch als eine Art österreichischer Molière gefeiert und aufgrund seines sozialkritischen Engagements und seiner Anklagen mit Émile Zola verglichen:
"Ich sah dem Volke nackten Unsinn bieten, oft mit krausester Tendenz verquickt, Handlung, Charaktere, alles unwahrscheinlich, unwahr, nicht überzeugend, so dass der guten Sache der Volksaufklärung mehr geschadet als genützt wurde ..."
Der Schriftsteller-Kollege Peter Rosegger fand Anzengrubers Gestalten zwar zu "wenig natürlich", doch Anzengruber verteidigte vehement seine Art eines poetischen Realismus, der literaturgeschichtlich Tendenzen des Naturalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorwegnahm.
"Es mag sein, dass ein Autor, der in der (realistischen) Weise seine Stoffe wählt und verwertet, einen Irrtum begeht ... aber ich denke, ihr habt keine Ursache, dem Manne gram zu sein. Lasst mir den Realisten gelten. Lasst mich gelten."
Die "Rebellennatur" starb früh
Neben dem aufklärerischen Impetus kam nun auch ein Humor zum Vorschein, der sich vor allem in Romanen wie "Schandfleck" oder "Der Sternsteinhof" sowie in Erzählungen wie "Die Märchen des Steinklopferhanns" ausdrückte. Humor, der Anzengrubers Unbotmäßigkeit aber nicht aufweichte, sondern eher umso deutlicher werden ließ. Sentenzen wie diese:
"Judenhetzen, Maurenvertreibungen, Hexen- und Ketzerprozesse waren Kapitalsregelungen... Über das, was oft angeblich zu Gottes Ehre geschah und geschieht, muss sich der Teufel freuen ... Lustige Leute lachen machen, ist kein Verdienst, aber die Falten ernster Stirnen glätten, halte ich für eines."
Die Prosa und Aphorismen entstanden, als Anzengrubers Theaterstücke immer seltener aufgeführt und neue Stücke zur Uraufführung gar nicht mehr angenommen wurden – die Zensur funktionierte wieder. Der Autor bewahrte sich jedoch bis zu seinem frühen Tod am 10. Dezember 1889 im Alter von nur 50 Jahren die "Rebellennatur", die ihm die Wiener "Arbeiterzeitung" in ihrem Nachruf bescheinigte. Ein 1905 enthülltes Denkmal am Schmerlingplatz zeigt den Autor in Gestalt einer seiner populärsten Figuren, des Steinklopferhanns.