Wilhelm Vossenkuhl: "Ludwig Wittgenstein"
C.H. Beck Verlag, München 2003
368 Seiten, 16,90 Euro
Auf der Suche nach der Wirklichkeit
37:34 Minuten
Dass er alle Probleme der Philosophie „endgültig gelöst“ hat, wie er einmal in jungen Jahren beanspruchte, darf man bezweifeln. Trotzdem bleibt Ludwig Wittgenstein einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Am 29. April 1951 ist er in Cambridge gestorben.
1921 veröffentlicht Ludwig Wittgenstein seinen "Tractatus logico-philosophicus": Damit habe er alle Probleme der Philosophie im Wesentlichen endgültig gelöst, so ist der damals 32-Jährige überzeugt. Auch wenn dieser Anspruch rückblickend reichlich übertrieben erscheinen mag: Heute gilt der Philosoph als einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts. Vor 70 Jahren, am 29. April 1951, ist er gestorben. Wer war Wittgenstein, was hat sein Denken ausgemacht?
Das zentrale Problem, das Wittgenstein sein Leben lang beschäftigt habe, so Wilhelm Vossenkuhl, der zahlreiche Werke über ihn verfasst hat, sei der Zusammenhang von Sprache, Denken und Wirklichkeit gewesen: "Wittgenstein war der Meinung: Wirklich ist nur das, was sprachlich präsentiert und repräsentiert werden kann, nichts anderes."
Logik als Fundament von Sprache und Wirklichkeit
Die Art, wie er dieses Problem angegangen ist, habe sich im Laufe seines Lebens jedoch stark verändert: In jungen Jahren, im erwähnten "Tractatus" – dem einzigen Werk, das er zu Lebzeiten veröffentlicht – verfolgt er einen streng formallogischen Ansatz: Unsere alltägliche Sprache verwirre unser Denken allzu oft. Von der Logik versprach sich Wittgenstein dagegen "Klärung des Denkens", wie Vossenkuhl erzählt: Zu dieser Zeit habe er geglaubt, "dass die Logik eine Art Fundament für Sprache und Wirklichkeit ist, eine Art Grundstruktur, die man nur herausarbeiten muss, um eine stabile Beziehung zwischen Denken und Wirklichkeit herzustellen."
Mit diesem Glauben an die Logik als "Fundament" fügt er sich in einen Trend der zeitgenössischen Philosophie – beeinflusst ist er insbesondere von Bertrand Russell, seinem Lehrer in Cambridge, wo er vor dem Ersten Weltkrieg Philosophie studiert. Nicht nur der unerhörte Anspruch von Wittgensteins Abhandlung hebt sie von anderen zeitgenössischen Veröffentlichungen ab, sondern auch sein stellenweise rätselhafter Stil, voller gewitzter Aphorismen – etwa: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." Oder der berühmt gewordene Schlusssatz: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."
Dahinter verbirgt sich ein Affront gegenüber seiner eigenen Disziplin, so Vossenkuhl: "Er war der Meinung, die Philosophie kann über das hinaus, was die Naturwissenschaften sagen können, sowieso nichts zum Verständnis der Welt beitragen – außer eben: Logik."
Die Wirklichkeit liegt vor unseren Augen
Nach diesem großen Wurf – der allerdings unter den Zeitgenossen auf allerlei Unverständnis stieß – zieht sich Wittgenstein folgerichtig aus der Philosophie zurück, da es ja doch nichts mehr zu sagen gebe. Stattdessen wird er Dorflehrer in Niederösterreich, er möchte etwas Sinnvolles tun. Sein beträchtliches Erbe – er ist Sohn eines reichen Wiener Industriellen – hat er schon 1916 ausgeschlagen. Auch diese Verbindung von Denken und Handeln trägt wohl zu seinem ikonischen Status bei. Lange hält diese Lebensphase jedoch nicht an, er sei eben "kein geborener Lehrer" gewesen, so Vossenkuhl.
Nach einer weiteren Station in Wien kehrt Wittgenstein 1929 schließlich nach Cambridge – und damit zur Philosophie – zurück, um zu lehren und zu schreiben. Sein Thema bleibt das gleiche – der Zusammenhang von Sprache und Wirklichkeit –, sein Ansatz jedoch ist nun ein gänzlich anderer: Anders als im Tractatus glaubt er nun, "dass die Suche nach der Logik als einem ehernen Fundament der Wirklichkeit in die Irre führt", sagt Vossenkuhl. "Weil, wenn wir verstehen wollen, was wirklich ist, suchen wir gar nicht nach etwas Verborgenem, sondern wir suchen nach dem, was offensichtlich vor unseren Augen liegt."
Die Bedeutung der Sprache lässt sich für Wittgenstein nun nicht mehr logisch ergründen, sondern nur aus ihrer Praxis erschließen: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache", wie er schreibt.
Gerechtigkeit zeigt sich im Handeln
Damit verbunden sei auch eine ungewöhnliche philosophische Haltung, erläutert Vossenkuhl: "Das ist der Vorrang der Praxis vor jeder möglichen Theorie. Das ist in der Philosophie etwas ganz Schwieriges, weil Philosophen neigen ja dazu, alles und jeden zu theoretisieren. Und er schlägt da einen völlig anderen Weg ein."
Bezogen auf die Frage nach dem Guten und Gerechten, hieße das etwa: Überlegt nicht abstrakt, was gerecht ist, sondern "schaut euch an, was ein gerechter Mensch tut", fasst Vossenkuhl Wittgensteins Standpunkt zusammen. Darin liege ein Grundgedanke, den Wittgenstein schon im Tractatus verfolgt habe, "dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Sagen und Zeigen gibt – das Zeigen ist viel grundlegender als das Sagen. Jemand, der sagt: Ich bin ein guter Mensch, da kann man mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er das nicht ist. Ob er gut oder gerecht ist, zeigt sich in seinem Tun."
Wir alle kennen uns nicht aus
Die wichtigste Lektion Wittgensteins für unser heutiges Leben sieht Vossenkuhl in einem Bekenntnis zur Ungewissheit: "Wir müssen uns eingestehen, wir kennen uns nicht aus, ob wir Philosophen sind oder Physiker oder Taxifahrer. Das ist die gleiche Grundsituation. Und mit dieser Grundsituation müssen wir uns erst einmal anfreunden und nicht so tun, als könnten wir sie leicht überspielen. Ich glaube, dann haben wir etwas erreicht, was Wittgenstein uns vermitteln wollte."
(ch)
Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:
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Die jüngst erhobenen Vorwürfe, der französische Philosoph Michel Foucault habe Knaben missbraucht, werfen die Frage auf, ob man zwischen Leben und Werk wirklich trennen kann. Und wie integer große Denker sein müssen. Kommentar von Andrea Roedig.