Der Zweck heiligt nicht die Mittel
Im Wahlkampf machen Politiker gerne Versprechen. Hat das schon als Lüge zu gelten? Nein, sagt die Philosophin Simone Dietz. Die Äußerung von Absichten und Prognosen im Wahlkampf sei oft nur Geplänkel und daher "nicht belastbar".
Welche Rolle spielen Lügen in der Politik? Und gibt es überhaupt gerechtfertigte oder entschuldbare Lügen? Das sind einige Fragestellungen an unserem heutigen zweiten Thementag "Und jetzt? Leben in Zeiten des Populismus", der unter dem Titel "Stimmung machen" steht.
Die Philosophin und Buchautorin Simone Dietz gab im Deutschlandfunk Kultur eine klare Definition ihres Begriffes von Lüge. Es handele sich um ein "verdeckt unwahrhaftiges Behaupten zu bestimmten Zwecken". Politiker dürften eigentlich genau so wenig lügen wie andere Menschen – doch es gebe Ausnahmen, bei denen eine Lüge durchaus gerechtfertigt sei:
"Weil sie sehr unter Beobachtung stehen, sind das Lügen zum Schutz der Privatsphäre. Ich denke, dass Politiker eben in erster Linie ein Amt haben und uns darüber Auskunft geben müssen, wie sie dieses Amt ausfüllen. Aber sie müssen nicht in besonderer Weise ihr Privatleben in die Öffentlichkeit stellen."
"Weil sie sehr unter Beobachtung stehen, sind das Lügen zum Schutz der Privatsphäre. Ich denke, dass Politiker eben in erster Linie ein Amt haben und uns darüber Auskunft geben müssen, wie sie dieses Amt ausfüllen. Aber sie müssen nicht in besonderer Weise ihr Privatleben in die Öffentlichkeit stellen."
Der Wahlkampf - schon Lüge oder reine Strategie?
Bei Aussagen von Politikern spielten oft strategische Überlegungen oder fraktionelle Abhängigkeiten eine Rolle, sagt Dietz. Es gibt eine schmale Grenzlinie: Politikern äußerten gerne viele Wahlkampfversprechen, denn hier könne man schlecht beim Sachverhalt der Lüge ertappt werden:
"Ob man eine Absicht zu dem Zeitpunkt dann wirklich gehabt hat oder nicht – wer will einem das jemals nachweisen? Deshalb finde ich auch, dass das für einen Lügenvorwurf nicht besonders sinnvoll ist. Wenn im Wahlkampf Versprechungen gemacht, wenn Absichten geäußert, wenn Prognosen gemacht werden, wie es wahrscheinlich laufen wird, dann ist das alles Geplänkel, das ist nicht belastbar."
"Ob man eine Absicht zu dem Zeitpunkt dann wirklich gehabt hat oder nicht – wer will einem das jemals nachweisen? Deshalb finde ich auch, dass das für einen Lügenvorwurf nicht besonders sinnvoll ist. Wenn im Wahlkampf Versprechungen gemacht, wenn Absichten geäußert, wenn Prognosen gemacht werden, wie es wahrscheinlich laufen wird, dann ist das alles Geplänkel, das ist nicht belastbar."
Helmut Kohls "blühende Landschaften"
Dietz führte in diesem Zusammenhang Helmut Kohls berühmtes Diktum von den nach der Wiedervereinigung zu erwartenden "blühenden Landschaften" in den neuen Bundesländern an:
"Und hinterher fühlen sich die Wähler von ihm betrogen. Weil es eben nicht so schnell geblüht hat, wie sie gehofft haben – das ist aus meiner Sicht kein guter Fall für einen Lügenvorwurf."
Simone Dietz ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Düsseldorf und Autorin des Buches "Die Kunst des Lügens". Als ehemalige Abgeordnete der Grün-Alternativen-Liste im Hamburger Senat verfügt sie auch über Erfahrungen in der Politik. (ue)
"Und hinterher fühlen sich die Wähler von ihm betrogen. Weil es eben nicht so schnell geblüht hat, wie sie gehofft haben – das ist aus meiner Sicht kein guter Fall für einen Lügenvorwurf."
Simone Dietz ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Düsseldorf und Autorin des Buches "Die Kunst des Lügens". Als ehemalige Abgeordnete der Grün-Alternativen-Liste im Hamburger Senat verfügt sie auch über Erfahrungen in der Politik. (ue)
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Die Frage, ob Politiker lügen oder nicht, die wäre so grundsätzlich eigentlich viel zu naiv gestellt, denn wir alle lügen mehrmals am Tag. Darüber gibt es seriöse Untersuchungen. Wir wollen daher lieber fragen, welche Rolle Lügen in der Politik spielen, welche gerechtfertigt, welche entschuldbar, welche verwerflich sind. Und wir wollen das von Simone Dietz wissen, Professorin für Praktische Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf, ehemalige Abgeordnete der Grün-Alternativen Liste im Hamburger Senat, also auch mit gewissen Erfahrungen in der Politik ausgestattet, und außerdem Autorin des neuen Buches "Die Kunst des Lügens". Frau Dietz, einen schönen guten Morgen!
Simone Dietz: Guten Morgen!
Kassel: Definieren wir doch erst mal Lüge für den Anfang ganz einfach und ganz klar als das Behaupten einer Tatsache, von der dem Sprechenden bekannt ist, dass sie nicht zutrifft. Darf ein Politiker so was tun?
Dietz: Politiker dürfen genauso wenig wie andere lügen, so wie sie wollen, aber genauso wie andere Menschen gibt es auch im Rahmen der Politik akzeptable Lügen, Lügen, die gerechtfertigt sein können.
Kassel: Und welche wären das für Sie?
Dietz: Das ist, finde ich, besonders in der Politik, weil das Leute sind, die sehr unter Beobachtung stehen, Lügen zum Schutz der Privatsphäre. Ich denke, dass Politiker eben in erster Linie eben ein Amt haben und uns darüber Auskunft geben müssen, wie sie dieses Amt ausfüllen, aber nicht in besonderer Weise ihr Privatleben in die Öffentlichkeit stellen müssen.
"Verdeckt unwahrhaftiges Behaupten zu bestimmten Zwecken"
Kassel: Gut, das verstehe ich. Aber nun erweitern wir doch mal diese Definition. Etwas zu behaupten, was falsch ist, man weiß es auch, das ist erst mal klar. Aber so klar ist das Leben ja oft nicht.
Dietz: Ja, meine Definition wäre das auch nicht.
Kassel: Was wäre denn Ihre Definition von einer Lüge?
Dietz: Ein verdeckt unwahrhaftiges Behaupten zu bestimmten Zwecken. Ob das, was man selbst für wahr hält, auch tatsächlich wahr ist oder nicht, ist gar nicht so wichtig. Es geht um das Eigene Für-wahr-halten, und das will man verdecken. Und deshalb erfindet man etwas anderes, was man dem anderen gegenüber als wahr behauptet.
Kassel: Können Sie da ein Beispiel nennen. Ich glaube, ich ahne, was Sie meinen, aber es ist ein bisschen kompliziert. Im politischen Alltag, was wäre für Sie ganz klar ein Fall, der dieser Definition entspricht?
Dietz: Wenn jemand sagt, wir haben eine Arbeitslosenquote von 46 Prozent, er selbst hat aber eine Statistik in der Schublade liegen, wo ganz klar steht, dass sie unter 20 Prozent ist, die Arbeitslosenquote, und die hält er auch für zutreffend, aber er meint, es sei eben – im Wahlkampf würde es sich besser machen, das ein bisschen hochzujubeln.
Kassel: Das ist jetzt ein sehr klares Beispiel, wo ich aber schon sagen würde, das ist ja so dreist, dass für mich nicht mehr die Frage wäre, ist das verwerflich oder nicht. Das ist für mich klar. Da würde sich für mich schon die Frage stellen, ist das nicht fast schon strafbar. Da bräuchten wir jetzt einen Juristen. Aber wäre das nicht auch für Sie ein Fall, wo man feststellen muss, das geht nicht mehr, oder gehört das noch zum politischen Handwerkszeug?
Dietz: Ja, anscheinend schon. Man kann es ja oft mal machen. Aber natürlich ist es nicht in Ordnung. Also in diesem Fall, denke ich, ist das klarer Weise kein seriöser Politiker, den man wählen sollte.
"Ein Fall, in dem man relativ schlecht ertappt werden kann"
Kassel: Wie war es denn eigentlich, ich meine, es war eine relativ kurze Zeit und es ist eine Weile her, 1991 haben Sie mal selbst als Abgeordnete für die GAL im Hamburger Senat gesessen, wie war es denn eigentlich da? Hatten Sie so das Gefühl, ich komme nicht immer daran vorbei, die Wahrheit, sagen wir mal, sehr persönlich zu interpretieren, oder hatten Sie das Gefühl, man kann als Politikerin völlig ohne Lüge auskommen?
Dietz: Wahrscheinlich nicht. Es ist eben so, dass man sehr oft strategisch in der Rolle agieren muss. Man selbst hält was anderes persönlich für richtig, aber man muss in der Rolle sprechen, die ja eine ganze Gruppe vertritt oder eine Partei und eine Fraktion. Das ist, finde ich, schon mal eine problematische Sache. Man agiert ja da auch in einem Verhältnis mit anderen Fraktionen, mit anderen Personen, also nicht immer nur gegenüber der Öffentlichkeit oder dem Wähler. Aber sicherlich sind – ich finde es schwierig. Die Situationen, in denen man ganz knallhart behauptet, so und so ist das, und das stimmt nicht, die sind, glaube ich, doch eher selten, und die versucht man auch zu vermeiden, weil das einfach Schwächen sind, die man sich damit selbst einhandelt. Da kann man ja ertappt werden.
Kassel: Aber ist es nicht auch so, dass man manchmal dann auch in einer Rolle ist, wo man sagt, es ist jetzt gerade so üblich, in dieser Situation zu lügen, ich habe wirklich einen großen Nachteil, wenn ich es nicht tue. Nehmen wir den Wahlkampf, wo es ja auch immer heißt, na ja, Wahlkampfversprechen, kein Mensch löst die eigentlich ein. Könnten wir uns auch schon wieder streiten, ist das wirklich eine Lüge. Aber wenn man, während man etwas verspricht, sich schon sicher ist, selbst, wenn ich gewählt werde, löse ich es nicht ein. Dann ist es ja im Prinzip eine Lüge, oder?
Dietz: Ja, weil man dann behauptet, ich habe die feste Absicht, und man hat sie nicht. Und das ist zum Beispiel auch ein Fall, in dem man relativ schlecht ertappt werden kann, und deshalb ist das natürlich auch eine beliebte Lüge. Weil ob man die Absicht zu dem Zeitpunkt dann wirklich gehabt hat oder nicht, wer will einem das jemals nachweisen. Deshalb finde ich auch, dass das für einen Lügenvorwurf auch nicht besonders sinnvoll ist.
Wenn im Wahlkampf Versprechungen gemacht werden, wenn Absichten geäußert werden, wenn Prognosen gemacht werden, wie es wahrscheinlich laufen wird, dann ist das alles Geplänkel. Das ist nicht belastbar. Und wenn hinterher also, wenn Kohl die blühenden Landschaften verspricht, und hinterher fühlen sich die Wähler von ihm betrogen, weil es eben nicht so schnell geblüht hat, wie sie gehofft haben, dann ist das aus meiner Sicht kein guter Fall für einen Lügenvorwurf.
"Weiß ja vor der Wahl niemand, über wie viel Macht er verfügt"
Kassel: Ja, aber trotzdem ist dieser Druck da, dass, wenn ein Politiker wirklich sagen würde, ich verspreche jetzt wirklich mal wenig, denn das eine, was ihr haben wollt, liebe Wähler, geht nicht, weil es nicht mit EU-Recht kompatibel ist, das andere, dafür haben wir nicht das Geld, und das Dritte, das kriege ich gegen den Bundesrat nicht durch. Wenn man also zu realistisch ist und jede Form der Lüge vermeidet, hat man dann nicht doch einen großen Nachteil? Mit anderen Worten, kann man nicht wirklich sagen, manchmal muss man lügen, weil man sonst einfach doof dasteht?
Dietz: Ja, aber deshalb würde ich das nicht als Lügen bezeichnen, wenn jemand sagt, was er eigentlich gern umsetzen möchte. Wenn er schon von vornherein, dass er das nur zu Wahlkampfzwecken behauptet und dass das gar nicht machbar ist, ist das schon sehr problematisch, aber auch dann, finde ich, ist es nicht wirklich eine Lüge, weil jemand, wenn er wirklich dafür steht, wenn das wirklich sein Ziel wäre, dann, finde ich, gehört das auch zu dem politischen Profil. Und das sind ja zwei verschiedene Sachen, für welche Positionen stehe ich, was möchte ich umsetzen, und was kann ich dann realistischerweise, wenn die Würfel gefallen sind, tatsächlich machen. Das weiß ja vor der Wahl niemand, über wie viel Macht er dann verfügt.
Kassel: Simone Dietz, Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Düsseldorf und Autorin des Buches "Die Kunst des Lügens, das gerade im Reclam-Verlag erschienen ist. Und das Gespräch, das wir mit ihr geführt haben, ist Teil unserer Reihe, unseres Thementags "Stimmung machen", den Sie auch im Internet finden unter deutschlandfunkkultur.de. Frau Dietz, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen noch einen schönen, so weit möglich, ehrlichen Mittwoch!
Dietz: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.