Luigi Amara: "Die Perücke"

Perücken verändern unsere Sicht auf die Welt

Buchcover Luigi Amara "Die Perücke"
Luigi Amara hat eine Kulturgeschichte der Perücke geschrieben. © Berenberg Verlag/ dpa picture alliance/ Markus C. Hurek
Von Tobias Wenzel |
Luigi Amaras "Die Perücke" ist mehr als skurrile Unterhaltung. Er zeigt in seiner Kulturgeschichte, wie wichtig Menschen das falsche Haupthaar ist, wie sie sich damit erotischer oder mächtiger darstellen. Im Gespräch mit unserem Autor wagt er eine Prognose für die Regierung Donald Trumps - auf der Basis seines Haupthaares.
"Mein Interesse ist sehr schrullig. Das gebe ich zu. Mein Psychoanalytiker hat noch nie ein Wort über dieses Thema verloren. Wenn ich bei ihm bin, sagt er einfach nichts dazu."
Luigi Amara sitzt im Arbeitszimmer seiner Wohnung in Mexiko-Stadt. Vollgestopfte Bücherregale; über einer Pflanze hängt eine Darts-Scheibe an der Wand. Aber der Blick des Betrachters huscht an alldem vorüber, um dann auf den Haaren des 46 Jahre alten Autors zu ruhen. Lange und wie besessen hat Amara an seinem Buch über Perücken gearbeitet. Wenn er sich mit der Hand durch das noch volle schwarze Haar fährt, wird deutlich: Es ist echt, Amara trägt keine Perücke. Der Grund für die Obsession findet sich in seiner Kindheit:
"Meine Mutter hat Perücken getragen. Das kam mir seltsam vor. Ich habe mich damals gefragt: Wie ist das möglich, dass Menschen etwas, das so aussieht wie ein Säugetier, das auf der Lauer liegt, wie ein Kleidungsstück benutzen und dabei noch glauben, dass sie gut aussehen?"
Eine "Geschichte der Welt anhand der Perücke" kündigt Luigi Amara im Vorwort zu seinem essayistischen Buch an. Und man denkt: Jetzt folgt eine absurde Argumentationsübung nach Art der griechischen Sophisten, ein euphorisches Lob auf etwas, das eigentlich nicht lobenswert ist.

Andre Agassis Perücke löste sich zur Unzeit auf

Aber die Lektüre dieser erstaunlichen Kulturgeschichte der Perücke macht schnell klar, dass das alles weit über skurrile Unterhaltung hinausgeht und, allem Augenzwinkern des Autors zum Trotz, nicht nur unseren Blick auf die Perücke, sondern tatsächlich auch ein wenig auf die Welt verändert. Selbst bei so komischen Anekdoten wie der von Andre Agassi. Der Tennisspieler trug lange eine wilde falsche Haarpracht, die sich allerdings 1990 am Abend vor seinem ersten Grand-Slam-Finale beim Kontakt mit einer ungeeigneten Pflegespülung in ihre Bestandteile auflöste:
"Auch mit noch so vielen Haarklammern ließ sich der Schaden nicht beheben, weshalb am nächsten Tag vor dem inneren Auge Agassis, der das übliche Haarband und darüber die behelfsmäßig mit Stecknadeln fixierte falsche Mähne trägt, statt der Szene, in der er als neuer Champion den Pokal in die Höhe stemmt, immer wieder derselbe Horrorfilm abläuft: Nach einer schwierigen Rückgabe fällt das Toupet in den roten Sand. Woraufhin sich das Stade Roland Garros in einen riesigen fassungslosen Wolfsrachen verwandelt, in dem sich kein Lüftchen regt und nur ab und zu Schreie zu hören sind, die die Stille zerreißen, vielleicht aber auch nur das grauenvolle Knacken und Knirschen vorwegnehmen, mit dem das Lügengebäude der Wirklichkeit in sich zusammenstürzt. Ein Stinktier? Jemand hat ein Stinktierfell auf den Platz geworfen?"
Der Perückenträger kann andere täuschen. Meistens, so lernt man in diesem Buch, das nicht nur etwas für kahlköpfige Leser ist, will er mit seinem falschen Haar andere beeindrucken: indem er zum Beispiel seine erotische Ausstrahlung demonstriert oder wie Andy Warhol seine Extravaganz oder aber, wie heute noch bei englischen Richtern zu beobachten, seine Autorität. Nicht nur für Menschen mit Haarausfall bedeutet die Perücke Amara zufolge auch den "Triumph über die Endlichkeit".

"Vor jedem Untergang des Imperiums hatte eine Perücke ihre Hochzeit"

"Die Perücke", dieser geistreiche, sprachlich herausragende Essay, ist im spanischen Original erschienen, noch bevor Donald Trump Präsident wurde. So hat es dieser Sonderfall von perückenhaft gelegtem Eigenhaar nicht mehr ins Buch geschafft. Aber auf die Frage, ob wir mit Trump eine Renaissance der Perücke erleben, hat der mexikanische Autor sofort eine Antwort parat:
"Ich glaube: ja. In meinem Buch gibt es den Gedanken und die Beobachtung, dass vor jedem Untergang eines Imperiums die Perücke ihre Hochzeit hatte. Das galt zum Beispiel für das alte Ägypten wie für das Römische Reich, auch für Frankreich. Deshalb hoffe ich, dass mit Trump die Perücke eine große Renaissance erfährt, damit wir dann erleben, wie das amerikanische Imperium untergeht."
In einer perückenlosen Welt blieben Luigi Amara dann noch die natürlichen Köpfe. Die beobachtet er schon jetzt in Mexiko-Stadt, aus dem Fenster seiner Wohnung im dritten Stock:
"Was ich von hier aus sehe, sind blendende Glatzen, dann wieder buschige Haarpracht. Ich betrachte die Menschen gerne aus einer anderen Perspektive. Und was man von hier oben von einem Menschen sieht, sind vor allem Haare."

Luigi Amara: "Die Perücke"
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
Berenberg 2017, Berlin
221 Seiten, 24 Euro

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