Lukas Bärfuss: Hagard. Roman
Wallstein Verlag, 174 Seiten, 19,90 Euro
So unzuverlässig wie ein Wildfang
Das Motiv des Verschwindens ist zentral in dem Roman "Hagard" von Lukas Bärfuss. Der Schweizer meint: "Es gibt in unserer Zeit ein fast unterschwelliges Gefühl, dass von uns und unserer Generation und unserer Kultur eigentlich nicht viel bleiben wird."
Lukas Bärfuss erzählt in dem Roman "Hagard" von 36 Stunden, in denen ein Mann allem Anschein nach unter die Räder gerät. Philip folgt einer Frau um ihrer pflaumenblauen Ballerinas willen und verliert beinahe alles. Erst platzt ein lukratives Geschäft, dann verliert er einen Schuh, die Verbindung zur Außenwelt und das gepflegte Aussehen eines Wohlstandsbürgers. Er wird jedoch auch mit einer besonderen Erfahrung beschenkt. Die fremde Unbekannte, der er willenlos folgt, obwohl er ihr Gesicht nicht einmal gesehen hat, schleudert ihn aus der Angestelltenwelt hinein in eine andere Sphäre. Mit kräftigen Seitenhieben auf eine im Niedergang befindliche Zivilisation erzählt Bärfuss, 1971 geboren und als Romancier inzwischen fast ebenso bekannt wie als Dramatiker, von einem mystisch erscheinenden Erlebnis.
Lukas Bärfuss erklärte im Gespräch beim "Bücherfrühling" den Titel seines neuen Romans:
"Ein Hagard ist ein Wildfang, ein Vogel, ein Falke, den man in freier Wildbahn gefangen hat und zur Jagd abgerichtet hat. Dieser Vogel ist sehr tüchtig bei der Jagd, weil er natürlich die Fähigkeiten nicht irgendwie in einem Modell gelernt hat, sondern tatsächlich an seiner Beute. Gleichzeitig ist er aber sehr unzuverlässig, das heißt, er kommt häufig nicht mehr zurück auf die Hand. Und daher kommt auch, was wir kennen als Wildfang: Jemand, der nicht an sich halten kann und ein bisschen unzuverlässig ist. Es bedeutet auch Dämon und Hexe übrigens. Es gibt dieses Wort in fast jeder europäischen Sprache, es hat eine uralte Ethymologie. Auf Französisch ist es sehr geläufig: être hagard. Auf Englisch auch: a hagard ist abgewetzt, abgerissen. Diese uralte Wurzel hat mich sehr interessiert."
Hat Bärfuss mit diesem Roman, der für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 nominiert war, lange gerungen?
"Ich ringe immer – und es wird nicht einfacher mit den Jahren. Als junger Mann hatte ich die Vorstellung, dass die Dinge mit dem Älterwerden einfacher werden, und ich stelle fest, das ist überhaupt nicht so. Jedes Buch stellt ein neues Problem. Das ist überhaupt die literarische Arbeit, sich ein neues Problem zu suchen, an dem man sich dann abarbeiten kann."
Welche Geschichten werden erzählt? Und wie?
Bärfuss verfolgt mit der Art, wie er erzählt, eine poetologische Reflexion, die ja auch politisch sei:
"Ich habe eigentlich in allen meinen Büchern und Theaterstücken immer wieder versucht, darüber nachzudenken, was eine Erzählung ist, woher ein Erzähler kommt, aus welchem Grund man überhaupt etwas erzählt, was man für ein Interesse verfolgt. Ich glaube, eine Erzählung, die nicht auch ihre eigenen Grenzen thematisiert, das heißt, die Dinge in den Blickwinkel rückt, die man nicht erzählen kann, die sich einer gewöhnlichen Dramaturgie entziehen, einer Erzählabfolge, wie wir sie kennen – das würde mich nicht interessieren. Mir geht es ganz grundsätzlich auch immer um eine Kritik an unseren Erzählformen, um vielleicht etwas herauszufinden, welche Geschichten uns eigentlich die ganze Zeit umgeben und nach welchen Gesetzmäßigkeiten diese Geschichten erzählt werden. Dieses durchaus politische Bewusstsein ist für mich vital wichtig."
Kann man sagen, dass der Erzähler von "Hagard" ein Kritiker unserer gegenwärtigen Gesellschaft ist und sie dem Untergang geweiht sieht?
"Er referiert ein allgemeines Bewusstsein – dieses Bewusstsein, das man häufig antrifft, dass wir in einer irgendeiner Schwellenzeit leben würden und dass irgendwann der große Zusammenbruch dieser Welt stattfinden würde. Ich glaube, das ist eher eine Kritik an diesem Geschichtspessimismus, an dieser Fatalität eigentlich, die uns auch häufig an der Gestaltung unserer Zukunft hindert. Ich habe manchmal das Gefühl, dass in unserer Zeit ein fast unterschwelliges Gefühl ist, dass von uns und unserer Generation und unserer Kultur eigentlich nicht viel bleiben wird, dass es nicht persistent ist, was wir produzieren. Allein durch die Tatsache, dass die elektronischen, die digitalen Medien sehr unzuverlässig sind."