Lukas Haffert: „Stadt Land Frust"

Doppelte Entfremdung

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Cover des Buchs „Stadt Land Frust" von Lukas Haffert.
© C.H. Beck

Lukas Haffert

Stadt Land Frust. Eine politische VermessungC.H. Beck Verlag, München 2022

190 Seiten

14,95 Euro

Von Thomas Groß |
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Die Konflikte zwischen Stadt und Land spitzen sich zu. Warum? Der Politologe Lukas Haffert beschreibt eine komplexe Gemengelage und findet die Ursachen im Wandel zur Wissensgesellschaft.
Stadt- und Landbewohner standen sich nie besonders freundlich gegenüber, selten jedoch war das Verhältnis so angespannt wie heute. Seit Donald Trumps Präsidentschaft gilt die Provinz bestenfalls als Ort mit miesem Handyempfang, schlechtestenfalls als Tummelplatz antidemokratischer Kräfte. Dass auch Lukas Haffert, Ökonom und Politologe an der Uni Zürich, im Stadt-Land-Gegensatz „eine der prägenden politischen Konfliktlinien unserer Zeit“ erkennt, überrascht da wenig. Und doch ist seine Studie mehr als ein weiterer Beitrag zur Populismusforschung.
Statt das Land einseitig zum Problemfall zu erklären, fasst er ländlich geprägte und urbane Milieus als zwei Seiten derselben Dynamik. Seine Grundannahme: Die aktuelle Verschärfung des Konflikts geht zurück auf eine Verschiebung des politischen Koordinatensystems in Deutschland und praktisch allen westlichen Demokratien. Seine These: Orte, die in diesem Prozess tonangebend sind, tragen ebenso zur Polarisierung bei wie Orte, die zurückbleiben. Der Graben allerdings verläuft zunehmend nicht mehr zwischen rechts und links, sondern zwischen Gewinnern und Verlierern ökonomischer Modernisierungsprozesse.

Hass auf die "urbanen Eliten"

Es ist der Übergang von der Industrie- hin zur Wissensgesellschaft, der Haffert zufolge die Spaltung des Landes vorantreibt. Einerseits sorgt dieser Prozess für einen permanenten Zuzug gut ausgebildeter Arbeitskräfte in die urbanen Zentren, die dadurch ihren Status als Innovationsstätten weiter ausbauen: Wo „smart“ gewirtschaftet wird, gesellt sich ein Start-up leicht zum anderen.
Der gesellschaftliche Wandel hin zur Wissensgesellschaft ist andererseits aber auch der Grund für eine kulturelle Entfremdung. Vor nicht allzu langer Zeit begegneten sich Stadt und Land noch mit einer Mischung aus Reserviertheit und Respekt. Seit „urban“ den herrschenden Lifestyle definiert, gilt die Landbevölkerung auch in ästhetischer Hinsicht als abgehängt.
Dass eine Stadt wie Berlin dabei zum Zankapfel wird, ist naheliegend: Die liberalen Sitten in der Hauptstadt sind ein gefundenes Fressen für Populisten mit ihrem Hass auf die „urbanen Eliten“.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Werte wie Diversity, Toleranz und Weltoffenheit allenfalls einem Teil der Bewohner zugutekommen. Jenseits des S-Bahn-Rings beginnt bereits die Peripherie und damit „das Land“. Ironie des Postindustriellen: Die Wahl Berlins zur Hauptstadt wurde einst auch mit dem Argument verfolgt, hier würde der Politikbetrieb endlich einmal mit der sozialen Realität konfrontiert. Inzwischen sind Abgeordnete, Journalisten und sonstige Kreativkräfte wieder weitgehend unter sich.

Ungleiche Lastenverteilung

Grundlegend neu sind solche Einsichten nicht. Ähnlich wie zuletzt Andreas Reckwitz hat der Städteforscher Richard Florida schon vor 20 Jahren die Ambivalenzen im Aufstieg einer „kreativen Klasse“ beschrieben. Der Zugewinn von Hafferts überaus gelungener Analyse liegt, neben der Fokussierung auf Stadt und Land, in der wesentlich differenzierteren Darstellung der daraus resultierenden Konfliktlinien: Statt bloß Behauptungen aufzustellen, spürt er Paradoxien, blinde Flecken und Repräsentationslücken im politischen System auf und unterfüttert sie mit statistischem Material.
Was nicht geboten wird, sind fertige Lösungen, und das mit gutem Grund: zu unaufhaltsam die ökonomische Dynamik, zu komplex die Problematik, um Patentrezepte für realistisch zu halten. Es bleibt einem nicht erspart, die angebotenen Szenarien selbst weiterzudenken. Wer zu jenen Lesern gehört, die es sich in ihrer Innenstadtwohnung zwischen Bauhaus-Sesseln und Bulthaup-Küche gemütlich gemacht haben, findet eine Reihe von Gründen, seinen Lebensstil vielleicht doch nicht für den besten aller möglichen zu halten.
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