Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts
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Der polnische Komponist Krzysztof Penderecki galt einigen als der Messias der Neuen Musik und seine Lukas-Passion als Meilenstein. Auch Stardirigent Kent Nagano begeistert sich für dieses Werk des vor einem Jahr verstorbenen Komponisten.
"O crux – o Kreuz, einzige Hoffnung", mit einem Aufschrei beginnt die Lukas-Passion. Es ist ein verzweifelter Schrei, der die ganze Dramatik verdeutlicht, die im Laufe der Geschichte zutage tritt. Pendereckis Werk ist keine Nacherzählung des Lukas-Evangeliums, es ist eine Anklage an die Menschheit, in der Krieg und Zerstörung thematisiert werden.
"Die Geschichte der Passion ist eine sehr starke Geschichte und kann unterschiedlich präsentiert werden. In der Art, in der Penderecki das konzipiert hat, ist es eine Mischung aus persönlichem Stil, sodass das allgemeine Resultat ist: Er spricht in einer humanistischen Art, sodass das Publikum eine Bindung hat", sagt Kent Nagano.
Im Rahmen der Salzburger Festspiele 2018 hat der Dirigent die Lukas-Passion mit dem Orchestre symphonique de Montréal, dem Krakow Philharmonic Choir und dem Warsaw Boys Choir aufgeführt. Die Aufnahme, im letzten Jahr auf CD erschienen, zeigt, dass Penderecki mit seinem Werk die Form des traditionellen Oratoriums sprengt. Der Evangelist, ein Sprecher, wird zum Vermittler zwischen den realistischen Szenen – fast wie in der Oper.
"Das meint, dass die Form verschiedene sensorische Aspekte kombiniert, den visuellen, den dramatischen, den intellektuellen, den emotionalen, den physischen Aspekt", erläutert Nagano. "Die puren physischen Dimensionen sind eindrucksvoll. Und ich glaube, in diesem Sinne war das für Penderecki eine offene Tür."
Musikdramatisches Neuland
Eine Tür, die in musikdramatisches Neuland führte. Es sind die emotionale Kraft, die tiefe Überzeugung, die glühenden Farben, die klangliche Faszination und die universelle Bedeutung, die der Lukas-Passion von Penderecki den Rang eines Schlüsselwerkes des 20. Jahrhunderts geben.
Doch ohne die Bach-Tradition wäre das nicht möglich gewesen: "Manchmal kann für Komponisten etwas so Perfektes wie die Matthäus-Passion zum Beispiel Druck geben. Aber es scheint, dass es für Penderecki – das ist ein Eindruck meiner privaten Konversation mit ihm – eher eine Inspiration war."
Das spiegelt sich im B-A-C-H-Motiv der Zwölftonreihe wider, die Penderecki dem Werk zugrunde legte, genauso wie im erweiterten d-Moll, das als Klagetonart an Bachs Matthäus-Passion erinnert. Statt der Bach-Choräle stehen bei Penderecki A-cappella-Chorsätze, in denen Jesus als Mensch vielstimmig in Erscheinung tritt. Diese Sätze symbolisieren die Fragilität des menschlichen Daseins.
Bei der Uraufführung war der Stil noch unverbraucht
Als Penderecki die Uraufführung seiner Lukas-Passion 1966 im Münsteraner Dom erlebte, waren seine Kompositionstechniken noch neu und unverbraucht – das Flüstern und Lachen des Chores oder die grellen Dissonanzen des Orchesters. Mittlerweile haben solche Effekte bis in die Filmmusik hineingewirkt. Als der Komponist 2018, nach 50 Jahren, wieder in seine Partitur blickte, konnte er selbst nur staunen über die packende und bleibende Intensität seiner Musik.
"Er hat sehr intensiv auf die Partitur geschaut während der Proben", sagt Nagano. "Und ich glaube, das war für ihn langsam zu sehen von diesem Stück, das war schon 50 Jahr alt, eine Art von Selbstidentität zu fühlen. Es war berührend, wie wenig er gesagt hat während der Probenphase, aber wie intensiv er mit der Partitur verbunden war."
Der Ruf aus dem Jenseits
An den Schluss seiner Lukas-Passion hat Krzysztof Penderecki einen grellen Akkord gestellt: ein reines E-Dur, das wie die Sonne durch die Wolken bricht. Es ist ein Klang aus einer anderen Welt, der Ruf aus dem Jenseits, wie er es sich vorstellte.
Dirigent Nagano sagt: "Die Bewegung geht aufwärts. Es geht nach oben. Man kann persönlich immer denken: Warum ist das so? Aber es hat sicher eine Relevanz dafür, was die Geschichte, was die Passion bedeutet."