"Raumfahrer" von Lukas Rietzschel
dtv Verlagsgesellschaft, München 2021
288 Seite, 22 Euro
Aufgewachsen in Ruinen
08:47 Minuten
Lukas Rietzschel verknüpft in seinem zweiten Roman Erfahrungen ostdeutscher Nachwendekinder mit denen der Nachkriegskinder. Ein Generationenroman über die Suche nach dem biografischen Fundament. Ein dramaturgisch dichtes Sittengemälde.
Als Kind macht Jan mit seinen Eltern regelmäßig Ausflüge zu den industriellen Hinterlassenschaften des einst "realexistierenden Sozialismus" seiner Heimat, der Oberlausitz. Geboren wurde er im Frühjahr 1989. Er wächst neben Werkbänken auf, ohne dort je Werktätige gesehen zu haben.
Schwerelos durch die Transformation
Die Orte seiner Kindheit und Jugend im sächsischen Kamenz zerfließen mit den Jahren ebenso wie die Biografien seiner Eltern zerflossen sind. Das Kinderzimmer, der Kindergarten, die Schule – kaputt, vom Moos überwachsen. Zu sehen sind hier und da noch die ausgeblichenen Reste der bunten Plastegardinen, die im Werbefernsehen der 90er-Jahre noch wie die Medizin für ein verheißungsvolleres Leben angepriesen wurden.
Die Mutter geht im Suff unter, der Vater kapituliert vor neuen Märkten und Ich-AGs. Das neue Wort "Lebensleistungsanerkennung" lässt ihn ratlos zurück. An manchen Stellen bleibt den Protagonisten nur der Zynismus.
Die Ruinen der Transformation stehen zwischen "Kaufland" und "Dänischem Bettenlager". Jan solidarisiert sich mit "Mutti" und "Vati", kann jedoch kaum entschlüsseln, wie sie wurden, was sie sind: Raumfahrer nämlich, zwischen den Welten schwebende.
Das geteilte Schicksal mit Georg Baselitz
Das Krankenhaus, in dem Jan seit seinem Realschulabschluss im Hol- und Bringdienst beschäftigt ist, soll nun 30 Jahre nach dem Mauerfall geschlossen werden. Aber noch schiebt Jan die Rollstühle der im Bevölkerungsschwund übriggebliebenen Patienten über blanke Linoleumböden zu Untersuchungen und Therapien.
Einer von ihnen ist Thorsten. Ein alter Mann, der regelmäßig erscheint. Er übergibt ihm eine Kiste mit Fotos, Briefen und anderen Dokumenten. Eigens für Jan angesammelt, von Günter Kern, dem jüngeren Bruder des weltberühmten Malers Georg Baselitz.
Eingeübte Einsilbigkeit
Erzählt wird die ausdrücklich fiktionale Geschichte dieser beiden Brüder: vom Aufwachsen in den Ruinen der Nachkriegszeit, von traumatisierten, entstellten und entgeisterten Männern. Es geht um große Träume und um gewaltvolles Ringen mit den Ideologien. Auch sie schweben zwischen den Welten. Zwischen Ost und West, Vergangenheit und Gegenwart.
Jan verliert sich in den Biografien der Geschwister, die nur unweit seines Zuhauses aufgewachsen sind. Warum soll er unbedingt vom Schicksal dieser fremden Männer erfahren? Welche Rolle spielt Thorsten, der Patient im Rollstuhl?
Jan beginnt, seinem Vater Fragen zu stellen. Der kann seine drei Jahrzehnte lang wohlüberlegt eingeübte Einsilbigkeit in Sachen Familiengeschichte kaum noch aufrechterhalten.
In kurzen hingetupften Sätzen, prägnant, voller Spannung, mit Rhythmus und starken Bildern verknüpft Lukas Rietzschel das Schicksal der Generationen dieses Landes. Eine ostdeutsche Geschichte, die keine monokausalen Ursachen und einfachen Lösungen für gesellschaftliche Schieflagen vorgaukelt. Es gibt eben keine allgemeingültige Erzählung über das Leben in der DDR und in der postsozialistischen Gesellschaft.
Nachkriegszeit und Nachwendezeit
Für Jan setzen sich die Puzzleteile seines biografischen Fundaments neu zusammen. Sie verbinden sich mit den Werken von Baselitz: "Jan war in einer anderen Zeit geboren und in einem anderen Deutschland. Aber vielleicht gab es Parallelen, die sich in dem Wort ‚Danach‘ verbargen. Nachkriegszeit, Nachwendezeit."
Der Autor, geboren 1994, ist in Sachsen aufgewachsen und lebt heute in Görlitz. Rietzschel hat aufgeschrieben, was viele Menschen seiner Generation aus Ostdeutschland bewegt. Wie soll sich seine Generation zum Erbe der DDR verhalten? Wie soll sie verstehen, was war und was sie selbst prägte, wenn in manchen Familien kaum oder gar nicht darüber gesprochen wird?