"Mir fehlt religiöse Ernsthaftigkeit"
Aller guten Ding sind drei: Nun ist auch die Luther-Sonderausstellung in Wittenberg eröffnet. Aber bei all der "Lutherei": Sind der Reformator und sein Wirken heute überhaupt noch spürbar? Der Einfluss schwinde, sagt Ausstellungskurator Benjamin Hasselhorn.
Als dritte große Ausstellung im Luther-Gedenk-Jahr (nach Berlin, Eisenach) beginnt heute die Schau "95 Schätze, 95 Menschen" in Wittenberg. Ein Teil der Ausstellung befasst sich mit der Wirkungsgeschichte Luthers bis heute. Wen haben Luther und sein Denken beeinflusst und wie? So trifft man in der Austellung zum Beispiel auf Astrid Lindgren, Sophie Scholl oder Karl May - Menschen, deren Leben von Luther beeinflusst wurde.
Ausdruck des religiösen Ringens
Einer der Kuratoren ist Benjamin Hasselhorn, der die Auswirkungen des Luthertums auch in einer Streitschrift untersucht hat: "Das Ende des Luthertums". Das Buch, sagt Hasselhorn, sei Ausdruck seines "religiösen Ringens mit Luther". Wieviel Luther ist heute noch spürbar?
"Der Einfluss schwindet aus meiner Sicht vor allem in religiösem Bezug, also in der Frage, was ist eigentlich Luthers religiöses Anliegen und wie setzt sich das in einer Kirche um. Und da fehlt mir sehr viel, vor allem religiöse Ernsthaftigkeit, mit der in Deutschland über Luther und seinen Ansatz geredet wird."
Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: Nicht 95 Thesen, sondern 95 Schätze und 95 Menschen zeigt die Ausstellung, die heute in Wittenberg beginnt. Es geht natürlich um Luther, um seine Ideen, um sein Wirken bis heute. Kuratiert wurde die Ausstellung unter anderem von Benjamin Hasselhorn, der auch ein Buch zum Thema geschrieben hat, "Das Ende des Luthertums?", und das will der Autor als Frage verstanden wissen. Guten Morgen, Herr Hasselhorn!
Benjamin Hasselhorn: Guten Morgen!
Welty: Wie passt denn das zusammen, dass Sie auf der einen Seite eine Luther-Ausstellung kuratieren und auf der anderen Seite ja eine Streitschrift verfassen und das Luthertum infrage stellen, und das alles in einem Jahr, wo so viel Luther ist wie selten?
Hasselhorn: Aus meiner Sicht passt das ganz gut zusammen, denn sowohl die Ausstellung als auch mein Buch sind Ausdruck eines existenziellen Ringens mit Luther, einer existenziellen Auseinandersetzung mit Luther. Und in unserer Ausstellung, die heute eröffnet, da wollen wir den Menschen Luther in den Mittelpunkt stellen, in seiner historischen Existenz, fragen, wie der Mann eigentlich zum Reformator wurde und worin dieses Reformator sein eigentlich besteht, und wie fragen nach seiner bleibenden Bedeutung, nach der Bedeutung über Epochen, über Kulturen hinweg und auch nach seiner bleibenden Bedeutung bis heute.
Geistliche Heimatlosigkeit
Welty: Worin besteht Ihr existenzielles Ringen in Bezug auf Luther?
Hasselhorn: Mein Buch "Das Ende des Luthertums?", das ist Ausdruck meines religiösen Ringens mit Luther und der Frage, wie viel Luther steckt eigentlich in der evangelischen Kirche in Deutschland heute noch. Und in gewisser Weise ist mein Buch auch Ausdruck einer geistlichen Heimatlosigkeit, weil ich mir irgendwann die Frage gestellt habe, steckt überhaupt noch Luther in der Kirche. Und daraus ist dann eine Liebeserklärung an das Evangelischsein, aber gleichzeitig auch eine Streitschrift über die Lage der Kirche geworden.
Welty: Wie definieren Sie überhaupt Luthertum?
Hasselhorn: Ich habe mal versucht, mich nicht so sehr an den klassischen dogmatischen Definitionen zu orientieren, den Bekenntnisschriften Luthers, die sicherlich auch alle sehr wichtig sind, sondern ich habe versucht, mal aus heutiger Sicht zu schildern, was einen lutherischen Christen eigentlich ausmacht. Und da sind es eigentlich vier Dinge, auf die ich gestoßen bin, die meiner Meinung nach lutherische Identität sehr gut zusammenfassen. Zwei Dinge betreffen das Gottesbild, also das Vertrauen in Gott, das Gottvertrauen, gleichzeitig die Hoffnung auf Gnade, die Hoffnung darauf, dass Gott mich, mich Sünder gnädig ansieht. Und dann sind es noch zwei Dinge, die meine Reaktion, die Reaktion des Menschen und das Verhalten des Menschen in der Welt betreffen: Das ist das Ernstnehmen des eigenen Gewissens und das ist der Mut, sich zu dem, was man für richtig hält, auch zu bekennen.
Wo Luther eine Rolle spielt
Welty: Ist das Buch da auch ein Teil dieses Bekenntnisses?
Hasselhorn: Das können Sie so verstehen. Ich habe ja nicht ganz unbewusst dieses Datum, dieses Jahr ausgewählt, weil ich mich öffentlich zu meiner Position bekennen möchte und weil ich eben gerne eine Debatte darüber anstoßen möchte.
Welty: Dass sich Kirchenmänner und -frauen von Luther inspiriert fühlen, liegt auf der Hand, aber wo und bei wem macht sich der Einfluss Luthers über solche Kirchenkreise hinaus bemerkbar?
Hasselhorn: Nun, über Kirchenkreise hinaus macht sich Luthers Einfluss eigentlich überall bemerkbar. Wenn Sie nach Wittenberg in unsere Ausstellung kommen, dann werden Ihnen 95 teilweise völlig überraschende Personen begegnen. Da begegnet Ihnen dann zum Beispiel Karl May oder Astrid Lindgren oder Sophie Scholl, also Menschen, die eigentlich nicht besonders mit Kirche assoziiert sind, für die in ihrem Leben aber Luther und Luthers Botschaften eine wichtige Rolle spielten.
Welty: Wie sieht das aus bei Astrid Lindgren zum Beispiel?
Hasselhorn: Astrid Lindgren ist ja Tochter eines schwedischen Pfarrhofpächters gewesen, und die Welt, die sie in ihren Kinderbüchern schildert, vor allem, wenn sie an die Geschichten "Michel aus Lönneberga" denken, das ist eigentlich die Welt ihrer eigenen Kindheit, das lutherisch geprägte ländliche Schweden. Und da gibt es dann immer wieder zum Beispiel den Pfarrer, der auf den Hof kommt und die Knechte und Mägde nach ihren Bibelkenntnissen abfragt, und Lina fällt dann durch, weil sie die ersten Menschen für Thor und Freya hält statt Adam und Eva.
Lutheraner und Nächstenliebe bei Astrid Lindgren
Oder wenn Michel die vergorenen Kirschen isst und dann eben zur Gemeinde muss, um die Beichte abzulegen und zu versprechen, dass er eine solche Sünde nie wieder begehen wird. Und all solche Szenen sind Überzeichnungen der Realität, aber entsprechen durchaus der Realität in Schweden. Und darüber hinaus sind wir der Überzeugung, die Ethik, die Astrid Lindgren vertritt, da steckt auch ganz viel Luthertum drin, nämlich eine Ethik der dienstbaren Nächstenliebe. Michel, der ja eigentlich ein frecher Junge ist, der lädt dann die Armenhäusler zum Weihnachtsschmaus ein, weil er der Meinung ist, das Essen, das die Eltern besorgt haben, das sollte vielleicht lieber den Armenhäuslern, die hungrig sind, gegeben werden als den Reichen in der Stadt, die sowieso schon genug zu essen haben.
Welty: Sie haben etliche prominente Beispiele genannt, wo Luther-Einfluss sehr deutlich zu spüren ist. Woran machen Sie fest, dass dieser Einfluss möglicherweise schwindet?
Hasselhorn: Der Einfluss schwindet aus meiner Sicht vor allem in religiösem Bezug, also in der Frage, was ist eigentlich Luthers religiöses Anliegen und wie setzt sich das in einer Kirche um. Und da fehlt mir sehr viel, vor allem religiöse Ernsthaftigkeit, mit der in Deutschland über Luther und seinen Ansatz geredet wird.
Welty: Aber um eine ketzerische Frage zu stellen: Liegt das nicht in der Natur der Sache, dass sich Dinge in 500 Jahren verändern?
Hasselhorn: Selbstverständlich. Also verstehen Sie mich nicht falsch, mir geht es nicht darum, dasselbe, was vor 500 Jahren als richtig erkannt wurde, einfach eins zu eins wiederbeleben zu wollen, aber mir geht es schon darum, die Dinge, um die es Luther ging – die Suche nach dem gnädigen Gott, die Frage nach der menschlichen Existenz und der Situation des Menschen, die tiefe Verlorenheit des Menschen in der Welt –, das als ernste Fragen wieder aufzunehmen und nicht sozusagen vorab zu verharmlosen.
Welty: Benjamin Hasselhorn, einer von vier Kuratoren der Wittenberger Luther-Ausstellung, die heute eröffnet, und Autor der Streitschrift "Das Ende des Luthertums?". Und dieser Titel beinhaltet ein nicht zu vernachlässigendes Fragezeichen. Herr Hasselhorn, haben Sie herzlichen Dank für den Besuch hier in "Studio 9"!
Hasselhorn: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.