Luthers Erben im heiligen Land

Von Gerd Brendel |
3000 Gemeindemitglieder zählt die lutherische Kirche in Israel, Jordanien und den palästinensischen Gebieten. Hier leben und arbeiten die Lutheraner als Minderheit unter Muslimen und als Minderheit unter den anderen christlichen Konfessionen.
Sonntags um neun in der Altstadt von Jerusalem. Die Glocken der evangelischen Erlöserkirche läuten zum Gottesdienst der arabischen lutherischen Gemeinde. Aber Pfarrer Ibrahim Azaar hat nur halbleere Bankreihen vor sich:

"Die Mitglieder sind verteilt in verschiedenen Teilen von Jerusalem, besonders nachdem die Mauer gebaut wurde, haben wir Gemeindemitglieder, die hinter der Mauer leben, Gemeindemitglieder, die vor der Mauer leben. Die brauchen sehr lange."

Wer pünktlich in die Kirche will, muss früh aufstehen und hoffen, dass die israelischen Soldaten einen nicht wieder zurückschicken, wie neulich den 14-jährigen Saleh:

"Am Checkpoint sollte ich meinen Passierschein zeigen. Ich sagte, dass ich 14 bin, also noch ohne Passierschein passieren kann, aber das wollten mir die Soldaten nicht glauben und als ich meine Geburtsurkunde zum Beweis vorzeigte, haben sie die einfach zerrissen."

Der Zorn des Jugendlichen lässt den Kanzelgruß des Pfarrers - "Und der Frieden, welcher höher ist als unsere menschliche Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne" - wie ferne Zukunftsmusik klingen.

"Ich trage das Leiden meines Volkes unter meiner Haut","

sagt Bischof Munib Younan, Pfarrer Ibrahims Vorgesetzter und Oberhirte über 3000 lutherische Christen in Israel und Palästina am nächsten Morgen in seinem Büro neben der Kirche.

Als integralen Bestandteil des palästinensischen Volkes versteht der 60-jährige Bischof seine Kirche. Dass Younan als Christ und Protestant gleich einer doppelten Minderheit angehört, bestimmt sein Selbstverständnis:

""Als palästinensische Christen sehen wir unsere Rolle als Vermittler, als Friedenswerkzeuge, Makler von Gerechtigkeit und Apostel der Liebe."

Eine Rolle, die entschiedene Worte nicht ausschließt: Gemeinsam mit den zwölf anderen Oberhäuptern der in Jerusalem vertretenen Kirchen unterschrieb Younan im letzten Jahr das "Kairos-Palästina-Dokument". Das Papier brandmarkt die israelische Besatzung als Sünde und befürwortet friedlichen Widerstand. Eine offizielle Anerkennung des Existenzrechts Israels fehlt, aber immerhin formulieren die Kirchenoberen die Vision eines gleichberechtigten Nebeneinanders von Israel und Palästina mit praktischen Konsequenzen.

Ein Projekt, das dem Bischof besonders am Herzen liegt, ist das interreligiöse "Council of Religious Institutions of the Holy Land". Vor fünf Jahren trat das Gremium zum ersten Mal zusammen: Zwei Rabbiner als Vertreter des israelischen Oberrabbinats, der katholische Patriarch, seine orthodoxen, anglikanischen und lutherischen Amtsbrüder, hochrangige islamische Theologen - sie alle kamen zusammen, um sich gegenseitig ihre Geschichten zu erzählen.

"Wenn wir über Versöhnung sprechen, müssen wir lernen, unsere beiden Erzählungen ernst zu nehmen: Wir Araber und sollten verstehen, welche tiefen, tiefen Spuren der Holocaust im Bewusstsein der Juden hier und auf der ganzen Welt hinterlassen hat. Und auf der anderen Seite erwarten wir von den Israelis, dass sie unser Trauma: Die 'Naqba', die Vertreibung durch den israelischen Staat verstehen. Dabei geht es nicht darum, Leiden zu vergleichen. Das geht nicht. Ich trage das Leiden meines Volkes unter meiner Haut, so wie der Rabbi das Leiden seines Volkes unter seiner Haut trägt."

Aber es bleibt nicht beim miteinander Reden.

"Wir haben ein Team aus israelischen, palästinensischen und europäischen Experten zusammengestellt, die 700 Schulbücher darauf überprüfen, was über die jeweils andere Seite gelehrt wird."

Dass Frieden etwas mit Erziehung zu tun hat, passt zum Bischof einer Kirche, die durch ihre Schulen genauso präsent ist wie durch ihre Gotteshäuser. Das ist so, seit die ersten protestantischen Missionare im 19. Jahrhundert im heiligen Land Schulen und Waisenhäuser bauten. Und bis heute schickt die palästinensische Elite, ob islamisch oder christlich, ihre Kinder auf evangelische Schulen. Der evangelisch-lutherischen Kirche in Jordanien und dem heiligen Land gehören vier davon. Die jüngste Schule steht seit zehn Jahren am Stadtrand von Bethlehem.

In Dar al Kalima – wörtlich "Haus des Wortes" wird das Miteinander der Religionen praktisch eingeübt: Jeden Morgen versammeln sich die 300 islamischen und christlichen Schüler zur Morgenandacht. "Danke Gott, für alle Deine Gaben" singen sie, bevor einer der beiden Religionslehrer erbauliche Geschichten aus der Bibel oder dem Koran erzählt.

"Wir konzentrieren uns nicht auf die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten","

erklärt Schuldirektorin Naila Kharroub.

""Hier an unserer Schule gibt es keine Probleme zwischen christlichen und islamischen Schülern. In jeder Klasse gibt es getrennten Religionsunterricht, aber ein Mal im Monat unterrichten die beiden Lehrer gemeinsam."

Noch sind fast die Hälfte der Schüler Christen, fragt sich nur wie lange noch. Die Mehrheit der weltweit gut 400.000 palästinensischen Christen lebt mittlerweile anderswo. Kein Wunder: Oft besser ausgebildet als ihre muslimischen Nachbarn sehen sie in ihrer Heimat keine Chancen mehr. Die Politik bestimmt den Schulalltag.

Wenn Schüler während einer Militäroperation von israelischen Soldaten in ihrem eigenen Haus eingeschlossen wurden, ist an normalen Unterricht am nächsten Morgen nicht zu denken. Trotzdem hat Naila Kharoub den Glauben an ein friedliches Zusammenleben noch nicht aufgegeben:

"Als Mutter will ich, dass meine Kinder in Sicherheit und Frieden aufwachsen, genau das gleiche wollen die Israelis."

Auch Bischof Younan in seinem Büro in der Altstadt von Jerusalem hofft weiter vor allem auf die Einsicht der Politiker.

"Wir stehen an einem Scheideweg, einem sehr gefährlichen Scheideweg","

sagt der Bischof und klingt wie jemand, dem die Zeit davon läuft.

""Wenn die Verhandlungen jetzt scheitern, werden uns die Extremisten auf beiden Seiten als Geiseln nehmen, und wir, die Gemäßigten, werden zur Minderheit. Deswegen müssen wir verhindern, dass die Extremisten in Palästina und Israel die Macht übernehmen."