Lutz Kerschowski, Andreas Meinecke: „Östlich der Elbe"

Zwischen den Liedzeilen lesen

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Lutz Kerschowski und Andreas Meineke (Hg.): "Östlich der Elbe"
Bandbreite der Musik: Von Manfred Krugs und Günther Fischers "Der Tag beginnt" aus dem Jahr 1971 bis Pankows "Langeweile" von 1989. © Ch. Links Verlag / Deutschlandradio
Von Michael Kuhlmann |
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Die Musikkultur war in der DDR ein emotionaler Rückzugsraum. Die Brisanz steckte meist zwischen den Zeilen. "Östlich der Elbe" blickt auf eine Musikgeschichte, die mitunter auch das Unverständnis zwischen Ost und West begreifbarer macht.
Viel ist in 30 Jahren geforscht worden über die DDR, ihre Gesellschaft und ihr Lebensgefühl. Diese neue Sammlung von Rocktexten bietet eine ungewohnte Perspektive – wenn man eine in der DDR verbreitete Fähigkeit bemüht: zwischen den Zeilen zu lesen. Dann machen die Texte eine Welt lebendig. Der Liedermacher Hans-Eckardt Wenzel bemerkt dazu in seinem Begleitessay: "Jetzt lesen wir die alten Texte und betrachten die Fotos dieser Zeit aus einem untergegangenen Reich wie die Spuren des Lebens in Pompeji. Ein Reich, das von Improvisation und Provisorien lebte. Absurd zum Teil, böhmisch nachlässig, aber voller Sehnsucht nach Welt und Widerstand gegen die Langeweile. Was fangen wir an mit diesen Erinnerungen? Wie soll man erzählen, was wir hofften, woran wir verzweifelten, woran wir uns stärkten?"

Zwischen Resignation und Realismus

Genau davon erzählen die Texte in diesem Buch. Über zweihundert Stück sind es. Die Bandbreite der Musik ist enorm. Sie reicht von Mona Lises "Wir dreh'n uns im Kreis" aus dem Revolutionsjahr 1989 bis zurück zu Manfred Krugs und Günther Fischers "Der Tag beginnt" von 1971, von Pankows "Langeweile" 1988 bis zu Gerhard Schönes "Briefe von Gott", 2012. Die Texte handeln von Themen, die die Menschen beschäftigten. Etwa vom ganz banalen Alltag. Es geht um Generationenkonflikte, um die Frage, was man aus seinem Leben machen soll, um zwischenmenschliche Beziehungen. Und – häufig zwischen den Zeilen – um Politik und Gesellschaft.
Herausgeber Lutz Kerschowski erinnert in seiner Einleitung daran, dass die DDR-Rockmusiker insofern vier Phasen durchlebten. In den frühen 70ern zunächst eine rebellische, mit Gruppen wie den Puhdys oder Renft. Ab Mitte des Jahrzehnts begannen melancholische Musik und metaphorische Texte vorzuherrschen. Verkörpert in Bands wie Lift, City und Karat. Die 80er brachten zunächst eine neue Form des Realismus, etwa mit der Gruppe Pankow. Im Klima der Ära Gorbatschow ab 1985 rüttelten auch andere Gruppen mehr und mehr an ihren Ketten. Solche Musik bot einen Rückzugsraum.
Herausgeber Kerschowski begründet: "In diesen zwei Jahrzehnten hatten Songtexte eine große Bedeutung, weil alles Öffentliche stark reglementiert und kontrolliert war. Da wurden die paar Quadratmeter Bühne ein hart erkämpfter Raum, auf dem jeder selbst entscheiden konnte, wie weit er geht – was er sagt und was er singt. Das Publikum hatte sehr feine Antennen dafür, wer es eher auf die Hitparade abgesehen hatte und wer gegen den Strom schwamm. Auch an den Texten hat man seine Pappenheimer erkannt – damals wie heute."

Seismograph der Stimmung im Osten

Auffallend, wie früh und deutlich sich in den 90ern die Ernüchterung breitmachte – das Gefühl, weniger wert zu sein, vom Westen nicht auf Augenhöhe behandelt: bei Gerulf Pannach und Christian Kunert mit ihrem "Blues in Rot" wie bei Lutz Kerschowskis "Brüderchen Schwesterchen". Eine stolze Distanz gegenüber dem Westen blitzt auf, bei Citys "Schwestern und Brüder" von 2004 oder bei Manfred Wagenbreths "Wenigstens", 2006. Anderenorts: Resignation, etwa bei Renfts "Als ob nichts gewesen wär" von 1999 – oder ein "Trotz alledem" wie bei Hans-Eckardt Wenzels "Die Schwalben", dem jüngsten Lied, von 2013.
Mit seiner Fülle derartiger Texte ist das Buch eine Fundgrube in Sachen Musik und Gesellschaft. Die 80 Schwarzweißfotos von Ulrich Burchert tragen das ihre dazu bei: Bilder mitten aus dem Geschehen. Natürlich werden Fans unken, warum etwa das bekannte "Irrenhaus" von Keimzeit ebenso fehlt wie das drastisch-drohende "S.O.S." von Silly oder das geradezu programmatische und auch prophetische "Das Eis taut" von Petra Zieger. Aber eine solche Sammlung hat nun mal ihre Lücken.

Aufschlussreiche Einblicke über die DDR

Was drinsteckt, ist gut ediert: So erscheint hier der exakte Text von Sillys "Alle gegen einen", der nicht mal auf der Hülle der Amiga-Originalpressung von 1989 korrekt wiedergegeben war. Mit seiner Auswahl versetzt das Buch die Leser direkt an den Puls der ostdeutschen Gegenkultur. Liedermacher Wenzel selbst bringt es in seinem Buchbeitrag auf den Punkt: "Blitzhaft taucht in den alten Fotos, den alten Tonaufnahmen etwas auf, das unsere Erinnerung zu entfesseln vermag – das durch seine Unvollkommenheit unsere Phantasie und unser Gedächtnis herausfordert", und das denen, die die DDR nicht kannten, aufschlussreiche Einblicke öffnet. Hier redet ein Teil jenes Milieus, das der Diktatur im Herbst 1989 den Garaus machte. Und mit dessen Signalen sich kaum ein tonangebender westlicher Politiker wirklich befasst hat.

Lutz Kerschowski, Andreas Meinecke (Hg.): "Östlich der Elbe. Songs und Bilder 1970-2013"
Ch.-Links-Verlag, 2020
352 Seiten, 40 Euro

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