Lutz Seiler

Eine Ausnahmeerscheinung in der Gegenwartsliteratur

Ein Mann sitzt auf einem Podium. Es ist der Schriftsteller Lutz Seiler.
Er füllt literarisch die Lücken der Gegenwart: Der Schriftsteller Lutz Seiler wurde mit dem Georg-Büchner-Preis 2023 ausgezeichnet. © IMAGO / Eberhard Thonfeld / IMAGO / Eberhard Thonfeld
Von Helmut Böttiger |
Mit „Kruso“ und „Stern 111“ hat Lutz Seiler herausragende Romane über die letzten Jahre der DDR und die Wendezeit geschrieben. In seiner Lyrik verdichtet er Gegenwartserfahrung und literarische Tradition. Nun erhielt er den Georg-Büchner-Preis.
Der Schriftsteller Lutz Seiler bekommt in diesem Jahr den Georg-Büchner-Preis. Dies teilte die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung am Dienstag in Darmstadt mit. Der 60-jährige Seiler habe als Romancier und als Dichter zu seiner eigenen, unverwechselbaren Stimme gefunden, melancholisch, dringlich, aufrichtig, voll von wunderbaren Echos aus einer langen literarischen Tradition. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis soll am 4. November im Staatstheater Darmstadt verliehen werden. Helmut Böttiger stellt den diesjährigen Preisträger und dessen Schaffen vor.

Lutz Seiler ist sicher eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Gegenwartsliteratur. Er verdichtet konkrete biografische Erfahrungen auf ungemein poetische Weise. Seilers Sozialisation in der DDR, verschiedene Probebohrungen in die literarische Tradition und ein Sensorium für die unmittelbare Gegenwart werden bei diesem Autor in einer unverkennbar eigenen literarischen Sprache verbunden.
Einer größeren Öffentlichkeit wurde Seiler mit dem Gedichtband „pech & blende“ aus dem Jahr 2000 bekannt. Bei den beiden Wörtern des Titels handelt sich um konkrete Begriffe aus dem Uranbergbau. Nur noch die Abraumhalde, die übrig geblieben ist, trägt den Namen von Seilers Heimatdorf Culmitzsch.
Das erste Gedicht des Bandes heißt „mechanik der bildwelt“ und umreißt eine Poetologie. Es gibt kein naives Schreiben mehr, so wie es auch keine unberührte Natur mehr gibt.

Lutz Seiler im Gespräch

Nur selten direkt politisch konnotiert

Der „objektive“ Zugriff – die Mechanik, das Abräumen – hat sich zwischen die Verse des Gedichts gestellt: „Mit Abstand entstehen härtere Zeichen.“ Seiler kommt immer wieder auf einige wenige zentrale Metaphern zurück und lädt sie existenziell auf.
Das Dorf, der Bergbau, die Schwärze des Ostens sind die Grundmuster. Nur selten ist diese Schwärze direkt politisch konnotiert. Im groß angelegten Erinnerungsgedicht „mein jahrgang, dreiundsechzig“ kommt es zur aphoristischen Wendung: „wir hatten / gagarin, aber gagarin // hatte auch uns“.
Langsam hat sich Seiler auch an die Prosa herangearbeitet. Im Erzählungsband „Die Zeitwaage“ von 2009 kehren Motive der Gedichte wieder, etwa der „Milchdienst“ in der Schule. Die Werkzeugkiste mit dem Glockengeläut, wenn sich Vater und Sohn am Sonntagmorgen zur Garage aufmachen, um das Auto zu warten und zu reparieren, wird zum Teil einer Epiphanie.

Die Prüfung jedes Details

Seilers literarische Technik entspricht dem, was er für die Garagen zu DDR-Zeiten anhand der Shigulis, Trabants und Wartburgs beschreibt: „die endlose Inspektion, die immerwährende Durchsicht“. Es ist ein Drehen und Wenden, die Prüfung jedes Details, bis der Satzbau und die Grammatik so fein poliert werden, dass die Worte aus sich heraus zu leuchten beginnen.
Mit den beiden großen Romanen „Kruso“ (2014) und „Stern 111“ (2020) hat Seiler nicht nur ein Epos über die letzten Jahre der DDR geschrieben, sondern auch einen grundlegenden Epochenwandel im Blick: einen großen Gesang auf das Ende des mechanischen Zeitalters.
Das ist etwas, was den gelernten Baufacharbeiter Seiler, den Zimmermann und Maurer besonders umtreibt. Der Künstler ist für ihn die höchste Stufe des Handwerkers.

Literatur füllt Leerstellen der Gegenwart aus

So bezieht sich die charismatische Figur des „Kruso“ auf Hiddensee auf mehrere literarische Vorgänger, vor allem auf die Imaginationen der Romantik. In "Stern 111" macht sich Carl Bischoff ausgerechnet in der mit scharfen und grotesken realistischen Details geschilderten Wendezeit 1989/90 auf die Suche nach einem „poetischen Dasein“. In Lutz Seilers Texten zeigt sich, wie Literatur die Leerstellen der Gegenwart ausfüllen kann.
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