Im Vorhof des Verschwindens
"Kruso", der erste Roman des Dichters Lutz Seiler, erzählt von der Arche Hiddensee in den Wendewirren und wird zur Allegorie auf die untergegangene DDR. Seiler ist ein Sprachmagier, dessen Aufmerksamkeit dem Verschwundenen gilt.
"Ich hatte nicht die Vorstellung, dass ich über die Wende erzähle und auch nicht über den Mauerfall. Aber ich habe diesen Zeitraum gewählt auf Hiddensee, auf dieser Insel und es ist überhaupt nicht nötig, dass der Held im Zentrum der sogenannten Wendeereignisse steht."
Lutz Seilers lang erwarteter erster Roman spielt im Sommer 1989 auf Hiddensee. Kurz bevor die DDR in den Turbulenzen der Geschichte untergeht, reist Seilers Protagonist Edgar Bendler auf die in der Ostsee gelegene Insel.
"Das Meer ist schon immer eine große Sehnsucht gewesen, seit ich denken kann. [...] Es ist so eine Art Jenseitsversprechen, eine Art Grenzerfahrung, die ich dort am Meer empfinde. Es ist dann aber auch dieses Meer, es ist eben die Ostsee. Das hängt wahrscheinlich mit der eigenen Lebensgeschichte zusammen, dass es dann nicht jedes beliebige Meer an jeder beliebigen Stelle sein kann. Genauso wie die Sehnsucht nach der Ferne immer nur dieser Blick von der Steilküste Hiddensees Richtung Møn sein kann."
Die Insel Møn gehört zu Dänemark, das für den 1963 in Gera geborenen Lutz Seiler bis zur Wende unerreichbar war. Lutz Seiler ist in den beiden thüringischen Dörfern Culmitzsch und Korbusen aufgewachsen. Während Culmitzsch von der Landkarte verschwunden ist, hat das Dorf in Seilers Erinnerungen noch einen festen Platz. Zunächst war es nur von gigantischen Abraumhalden umgeben, die aber immer näher rückten und schließlich alles begruben, was dem Uranbergbau im Wege stand.
Heute schlängeln sich die Straßen kurvenreich durch diese Landschaft, obwohl es keine Hindernisse gibt, denen sie ausweichen müssten. Die Häuser, die den Straßenverlauf einst vorgaben, sind verschwunden. Ganze Dörfer sind geschleift worden, weil es in der Erde Uran gab. Lutz Seiler ruft mit dem Titel seines 2000 erschienenen Gedichtbandes "pech & blende" das mit Uran angereicherte Mineral Pechblende in Erinnerung, das die Menschen prägte, die in dieser Gegend aufwuchsen.
Um Uran aus der Tiefe nach oben zu holen, muss man sich nach unten begeben. In Seilers Gedicht "gravitation" erweist sich diese Richtung identisch mit der, die das Erinnern nehmen muss.
"die alte / führung verschwindet , gekippt, nur / ein zucken innerhalb des apparats. das schilf / spricht sich ein; morgen / werden die schlangen begradigt. // jedes gedicht geht langsam / von oben nach unten, von unten / nach oben. es verwahrt / seine sture natur / die sich noch mit ihren abgetrennten blütenköpfen / nach der sonne dreht." (pech & blende, 80.)
Die Geschichte der Landschaft und ihrer Menschen
Während die Abraumhalden nicht zu übersehen waren, die bei der Uranförderung anfielen, blieb die Radioaktivität unsichtbar, die die Menschen verstrahlte. Doch auch wenn sie nicht zu sehen war, es gab sie und es gibt sie weiterhin. Die Geschichte dieser Landschaft und ihrer Menschen erzählt Lutz Seiler, indem er wie ein Geigerzähler die von dieser Gegend ausgesendeten Signale empfängt und sie in Poesie übersetzt. Eindringlich ist der Ton, den er im Gedicht „pech & blende" anschlägt.
"obwohl / wir selbst längst hätten schlafen müssen / drängten wir zu mutter hinunter, wenn vater / nachts umherging und schrie / den knochen das weiss das waren die knochen / mit russischen ölen und erzen / so sagten wir uns, er wittert das erz, es ist der knochen, ja // er hatte die halden bestiegen / die bergwelt gekannt, die raupenfahrt, das wasser den schnaps / so rutschte er heimwärts, erfinder des abraums / wir hören es ticken, es ist die uhr, es ist / sein geiger zähler herz" (pech & blende, 36f.)
Neben dem Geigerzähler wird im Gedicht mit der Uhr auf ein weiteres Messgerät verwiesen, das in Seilers Poetik einen zentralen Platz einnimmt. Die Uhr, die das vergehen von Zeit anzeigt, und der Geigerzähler, der Radioaktivität hörbar macht, sie kommunizieren mit dem Auge und mit dem Ohr. Einen Geigerzähler nennt der Erzähler in Seilers Prosatext "Turksib" – für den er 2007 den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt – liebevoll seinen kleinen Erzähler.
"Dieser Geigerzähler, das ist ja [...] eher so ein Zauberkästchen, das den Reisenden verzaubert, durch die Geräusche, die das Kästchen macht. [ ...] Und nur, um einen besseren Begriff davon zu haben, nennt er es irgendwann ‚mein kleiner Erzähler'. Also ich selber bin erst sehr spät darauf gekommen, dass in dem Wort Geigerzähler das Wort Erzähler identisch enthalten ist."
Dass der Geigerzähler ähnlich funktioniert wie das Erinnern, wird dem namenlosen Ich-Erzähler in Seilers Geschichte bewusst, als er in der Tuksib, der Turkestanisch-Sibirischen-Eisenbahn, mit einem Heizer zusammentrifft. Als der Heizer erfährt, dass der Reisende aus Deutschland kommt, versucht er ihn mit den Anfangszeilen von Heines "Loreley" zu beeindrucken: "Ich weiß nicht was soll es bedeuten, / daß ich so traurig bin; ein Märchen aus alten Zeiten"... Doch genau an dieser Stelle spielt ihm sein Erinnerungsvermögen einen Streich, denn ihm fällt die dem Ganzen erst Sinn gebende nächste Zeile nicht mehr ein. Das hat durchaus seine eigene Komik, denn die vergessene Zeile lautet: "Das kommt mir nicht aus dem Sinn."
Das Erinnerungsarchiv des Erzählers geöffnet
Im Unterschied zum Heizer hat der Erzähler die fehlende Gedichtzeile förmlich im Ohr. In der Absicht, dem Heizer helfen zu wollen, spricht er sie ihm lautlos vor. Aber das genügt nicht. Der sprachlos Gewordene findet nicht in seinen Text zurück. Erst als der Erzähler nicht mehr an sich halten kann, und die fehlende Gedichtzeile förmlich herausschreit, wirkt der Schrei auf den Heizer wie ein Weckruf. Erfreut über die ihm zuteil gewordene Erinnerungshilfe bedankt er sich, indem er den Erzähler heftig umarmt, wobei durch die intensive Körpernähe nun auch das Erinnerungsarchiv des Erzählers geöffnet wird.
"Im sauren, meine Nasenschleimhäute beizenden Geruch der Heizeruniform, aus den Ingredienzien dieses atemberaubenden Dunstes entstand das alte Sowjetkasino. Ich roch das Waffenöl und das Linol unterm Knie, ich roch die Lappenbinde über den Augen, die Bestzeit, den Wettkampf, das Feder!-Stange!-Kolben!-Zylinder! – die bedeutsame Schwere jedes einzelnen Teils in der Hand und den Hocker vor der Brust." (Turksib, 25)
Der Erzähler erinnert sich durch das Zusammentreffen mit dem Heizer wieder an eine längst vergessene Geschichte, die aus einem Tiefschlaf geweckt wurde. Eine ähnliche, das Erinnerungsvermögen beflügelnde Funktion, besitzt in Seilers Erzählung "Die Zeitwaage" eine Uhr, die ein Arbeiter in einer Kneipe vergisst. Der Erzähler, der in der "Assel" als Kellner arbeitet, nimmt die Uhr an sich. Zeit, sie ihrem Besitzer zurückzugeben, bleibt ihm aber nicht mehr, denn kurz nachdem der Arbeiter den Gastraum verlassen hat, verunglückt er bei einem Unfall tödlich.
Fortan betrachtet der Erzähler die Uhr als eine auf ihn gekommene Hinterlassenschaft. Er kümmert sich um das Erbstück, pflegt die Uhr, und lässt sie vom Uhrmacher Walinski regelmäßig durchsehen. Nach der Übergabe der Uhr wartet er auf das Geräusch, das die Zeitwaage verursacht. Der Uhrmacher überprüft mit der Zeitwaage die Ganggenauigkeit von mechanischen Uhr und aus dem was er hört und dem Protokoll, das die Zeitwaage erstellt, kann er ersehen, ob die Uhr richtig, ob sie im Takt mit der Zeit geht.
"Zwei, drei Atemzüge, und obwohl ich vorbereitet bin, überfällt es mich: Der maschinenhafte Ton, klar und stark, als schlüge etwas gegen die Verstrebungen der Zeit, im Grunde kein Ticken und doch das Echo der Uhr, für die ich Sorge trage." (Zeitwaage, 266)
Wer von der Steilküste Hiddensees nach Norden schaut, erblickt erst am Horizont, wo Himmel und Meer zueinanderfinden, eine Grenze. Diese grenzenlose Weite weckt Sehnsüchte. "Wer hier ist, hatte das Land verlassen, ohne die Grenze zu überschreiten", sagt Ed in Lutz Seilers Roman "Kruso". Bei gutem Wetter kann man die dänische Insel Møn sehen. Im Sommer 89 flieht der 24-jährige Germanistikstudent Edgar Bendler nicht nach Dänemark, sondern nach Hiddensee.
Die Geheimnisse des Abwaschs
Als SK, als Saisonkraft, findet er in der Feriengaststätte "Zum Klausner" Arbeit. Dort begegnet er dem ungemein charismatischen Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. Der Sohn einer Zirkusartistin und eines russischen Generals wächst nach dem Tod seiner Mutter zusammen mit seiner Schwester Sonja bei seinem Stiefvater auf, der auf Hiddensee ein Strahleninstitut leitet. Ed ist fasziniert von Kruso, der wie er Gedichte schreibt. Doch während seine Verse nur hölzern klingen, stimmen Kruso Gedichte. Neidlos erkennt Ed Kruso als seinen Meister an von dem er sich in die Geheimnisse des Abwaschs einweisen lässt, denn gemeinsam arbeiten sie im "Klausner" als Tellerwäscher an einem Spülbecken.
"Diese Geschichte hätte ich nicht erzählen können, wenn ich nicht da gewesen wäre. Ich habe im Sommer 89 da im Abwasch gearbeitet. Vieles ist dann natürlich auch in dieses Buch eingegangen, obwohl es keine Rekonstruktion der Umstände von damals ist, sondern Literatur. Es gibt aber die authentischen Anhaltspunkte, die man immer braucht, um ins Erzählen einzusteigen. Das war der Ausgangspunkt. Ich hatte eigentlich nie vor, darüber ein ganzes Buch zu schreiben."
Als Lutz Seiler im Sommer 2011 Stipendiat der Villa Massimo in Rom war, wollte er zunächst einen ganz anderen Roman schreiben.
"Ursprünglich hatte ich einen Nachwenderoman geplant, in dem diese Hiddensee-Geschichte als Rückblicks-Kapitel vorkommen sollte. Und dann kniete ich wirklich sehr lange auf dem Roman und er wollte nicht so richtig gelingen. Am Ende habe ich aufgegeben. Ich habe damals schon Bilder gesehen, die so eine Portalfunktion hatten. ! Und ganz schnell war klar, dass das ein wirklich lohnenswerter Stoff ist, dass diese ganze Szene Hiddensee ein wirklich wunderbares Material ist [...], so hat es angefangen."
Im "Klausner" hat eine seltsame Crew angeheuert. Zu ihr gehören auch zwei promovierte Kellner, die über die Köpfe der Gäste hinweg philosophische Gespräche führen, während sie das Essen servieren. Als Ritter einer Tafelrunde bilden die zwölf im "Klausner" Beschäftigten eine verschworene Gemeinschaft. Kruso, der ungekrönte Inselkönig, kümmert sich um die, die auf die Insel gekommen sind, aber keinen Schlafplatz haben. Er kocht für die Gestrandeten eine heilige Suppe, organisiert Waschungen und er weiß wo sie übernachten können. Wer Glück hat, darf im Gerhart-Hauptmann-Museum im Bett des Nobelpreisträgers die Nacht verbringen.
Niemand wird von Kruso abgewiesen, alle sollen bleiben. Ed war nach Hiddensee gefahren, als er nach dem Tod seiner Freundin Gefahr lief, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Im hohen Norden hofft er, das Bild los zu werden, das ihn an G.s Tod erinnert.
Idee mit dem Radio als Glücksfall
"Zuerst kommt die Straßenbahn, aber ich möchte nicht immer mit der Straßenbahn beginnen, schließlich war ich nicht dabei, werde nie dabei gewesen sein, nicht an der Haltestelle, aber jemand sagt, sie hätten gerufen, schon lange, Achtung, Vorsicht, Achtung irgendetwas, was soll man schon rufen, quer über die Gleise [...] und dann lag sie einfach so da, als repariere sie den Wagen." (Kruso, 147)
Edgar wehrt sich gegen dieses Bild, das sich wie ein Schatten über alle anderen Erinnerungen an die gemeinsam mit G. verlebte Zeit gelegt hat. Auf diesem letzten Bild, das sich ihm tief ins Gedächtnis eingeprägt hat, liegt sie regungslos einfach da. So war es gewesen. Das Bild stimmt.
Aber Ed will sich mit dem, was auf dem Bild zu sehen ist, nicht abfinden, deshalb versucht er sich an die lebendige G. zu erinnern, als er mit ihr zusammen war. Das gelingt im Verlaufe der Handlung immer besser und er sieht schließlich nicht nur die tote, sondern auch die lebende G. vor sich. Die Geschichte von G.s Tod zieht sich wie ein roter Faden parallel zur Geschichte vom Exodus der DDR durch den Roman.
Während die Zeitwaage in Seilers bereits erwähnter Erzählung ein Geräusch verursacht, das den Protagonisten an die Zeit erinnert, als der Arbeiter in der Gaststätte seine Uhr vergaß, liegen in "Kruso" Eds Erlebnisse auf Hiddensee im Sommer 89 auf einer Zeitwaage, weshalb im Roman das Echo eines Landes zu hören ist, das damals im Begriff war zu verschwinden. Wie es in diesem Sommer immer weiter vom Kurs abkam und schließlich unterging, das verfolgten Ed und Kruso am Radio, das im "Klausner" den ganzen Tag lief.
Der Rundfunkempfänger mit dem schönen Namen "Viola" war allerdings etwas ramponiert. Der Knopf zur Senderwahl fehlte, sodass nur der Deutschlandfunk empfangen werden konnte, der aber seine Hörer im "Klausner" verlässlich mit allen wichtigen Informationen versorgte. Und wenn gegen Mitternacht die andere Nationalhymne erklang, war dies zwar noch Zukunftsmusik, aber sie lernten bereits die Melodie kennen und musstenen später nur noch den Text lernen. Von „Viola" erfuhren sie, was sich im Sommer 89 in Ungarn und später in den Botschaften von Prag und Warschau ereignet. Für den Roman erweist sich die Idee mit dem Radio als ein Glücksfall, denn durch diese „kleine Erzählerin" weiß man stets, was sich wann ereignet.
"Immer quer über die Gleise"
Lutz Seiler teilt seinen Anspruch, als Erzähler genau und zugleich wahrhaftig zu sein, mit Uwe Johnson. Wegen der offensichtlichen Berührungspunkte zwischen seinem Roman "Kruso" und Johnsons Poetik ist Lutz Seiler 2014 mit dem Uwe Johnson-Preis ausgezeichnet worden. Den Dialog mit dem Mecklenburger eröffnet er, wenn er im Roman bei der Schilderung von G.s Unfalltod – mit Rufen quer über die Gleise hat man versucht, sie vor der herannahenden Straßenbahn zu warnen – an jenen berühmten Satz erinnert, mit dem Uwe Johnsons Roman "Mutmassungen über Jakob" beginnt:
"Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen."
Dass die "Mutmaßungen über Jakob" 1959 nur in der Bundesrepublik erscheinen konnten, war ein Grund für Uwe Johnson, das Land zu verlassen, in dem er leben wollte, aber nicht konnte. Doch er kam von der DDR nicht los, die ein zentrales Thema in seinem Roman „Jahrestage" ist, der damit beginnt, dass sich Gesine an die Ostsee erinnert.
"Gerade die 'Jahrestage' waren eine Referenzgröße fürs Schreiben von 'Kruso'. Aber vielleicht noch stärker die Rolle des Meeres und der Ostsee. Es gibt verschiedene Stellen in den 'Jahrestagen', wo Johnson ganz dezidiert darauf hinaus will, dass in diesem Wasser die Toten sind. [..] Ich habe an Johnsons Nachdenken über das Meer und speziell über die Ostsee und die Toten in der Ostsee gedacht. Natürlich, er ist ja der Autor für diesen Raum und es wäre absurd, ihn nicht dabei zu haben."
In Johnsons "Jahrestage" erklärt Gesine, abgekürzt G., ihrer Tochter Marie, warum es für sie Gemeinsamkeiten zwischen der Katze Erinnerung und dem Erzählen gibt. Wer sich erinnert, muss "unabhängig, unbestechlich und ungehorsam" wie eine Katze sein. Aber sie macht ihr anhand dieses ungewöhnlichen Vergleichs auch deutlich, was beim Erinnern so schwierig ist. Denn obwohl sie ihr die Wahrheit erzählen will, erinnert sie manches falsch oder sie hat vergessen, was sie ihr eigentlich erzählen müsste. Vergessen hat Ed G.s Katze in Seilers Roman nicht.
Nach dem Tod seiner Freundin hat er sich um das Tier gekümmert. Doch dann verschwindet die Katze plötzlich und taucht nicht wieder auf. Der Katze, die in ihrer symbolischen Bedeutung nicht nur der Freiheit, sondern auch der Wahrheit verpflichtet ist, steht in Seilers Roman ein Fuchs zur Seite.
"Dass der Fuchs reden kann, dass der Fuchs verwest und trotzdem weiter sprechen kann, eigentlich kommt mir das gar nicht so absonderlich vor. Es ist diese Situation der Abgeschiedenheit, des Alleinseins, diese vollkommene Abwesenheit, die Ed zum Sprechen bringt. [...] Der braucht diesen Ort der Selbstaussprache, um seine Dinge zu klären, die auf der Insel geschehen. [...] Er braucht einen Ratgeber. Und der Fuchs ist sein Ratgeber."
Im Gespräch mit Georg Trakl
Im Gespräch ist Ed aber auch mit dem expressionistischen Dichter Georg Trakl, dessen Gedichte Ed auswendig aufsagen kann. Durch die besondere Bedeutung, die Trakl und der Fuchs in Seilers Roman spielen, weist eine Spur zu Franz Fühmann. In seinem Trakl-Essay gesteht Fühmann sein persönliches Scheitern ein. Weil er keinen Zweifel daran aufkommen lassen wollte, dass er aus seinen Fehlern während der NS-Zeit gelernt hatte, wurde Fühmann in der DDR zu einem überzeugten Antifaschisten. Doch ein weiteres Mal musste er erkennen, dass er einer falschen Ideologie gefolgt war. Der Untertitel des Trakl-Essays lautet: "Der Wahrheit nachsinnen."
Auf einen, dem die Wahrheit egal ist, kommt Fühmann in seiner Adaption des mittelalterlichen Tierepos' "Reinecke Fuchs" zu sprechen. Als exzellenter Lügner verbreitet der Fuchs die Kunde, dass er sich zum Klausner gewandelt hat und fest entschlossen ist, übers Meer nach Rom zu pilgern. Über die Freiheit, die Lüge und das Meer wird in Seilers Roman im "Klausner" nachgedacht, einer Gaststätte, die Arche und Einsiedelei zugleich ist.
Mit dem schlauen Fuchs, der vor keiner Lüge zurückschreckt, und der Katze, die der Wahrheit verpflichtet ist, verweist Seiler auf zwei unterschiedliche Erzählmodelle, die bei der Rekonstruktion von Vergangenheit miteinander konkurrieren. Seiler musste beim Schreiben von "Kruso" eine Antwort auf die Frage finden: Wie kann erzählt und was soll erinnert werden?
"Krusos Utopie der Freiheit und seine Praxis, das dominiert dieses Buch. Es hat so verschiedene Facetten. Zum einen ist Kruso dieser Guru, eine Art Inselpate, für die Saisonkräfte. Er verspricht mit Hilfe von heiligen Suppen, rituellen Waschungen und eben den drei Nächten auf der Insel, jeden Schiffbrüchigen dieses Landes und des Lebens – was meist in eins fällt – zurückzuführen zu den Wurzeln der Freiheit. Das hat so schamanische Züge. Zugleich hat es so eine wahre, wirklich Seite, weil diese Insel und das Leben auf der Insel freiheitlich in gewissem Sinne waren. Dort bestand diese irre Situation, dass Armee – weil Grenzgebiet – und diese Szene von Aussteigern – in diesem surrealen Nebeneinander existierten."
Kruso ist überzeugt davon, dass die Idee, die er auf der Insel zunächst nur im Kleinen umzusetzen versucht, zunächst nicht mehr als ein Anfang ist. Aber er glaubt fest daran, dass sie schließlich das ganze Land erfassen und verändern wird.
"Die Insel ist der erste Schritt, verstehst du, Ed? Die Insel ist der Ort. Hier gelingt es den meisten schon nach Stunden, die Wurzel zu berühren. Sie ist in uns hineingewachsen aus der Vorvergangenheit, nicht seit der Geburt etwa oder gerade in diesen Tagen, wie manche glauben möchten, nein, ich meine: seit Menschengedenken. Gelingt es uns die Wurzle zu berühren, spüren wir es: Die Freiheit ist da, tief in uns, sie wohnt dort, so tief wie unser innerstes Ich. Das ist die Freiheit, die ich meine. Sie ist das Denken des innersten Ichs, das Denken unseres Selbst in der Geschichte." (Kruso, 258)
Das Land, um das sich Träume ranken
Doch schneller als Krusos Utopia dürfte die dänische Insel Møn zu erreichen sein, die nur wenige Kilometer entfernt von Hiddensee liegt. Wer die Flucht über die Ostsee wagt, wem Wind und Meer gewogen sind, wer Glück hat, könnte das Land, um das sich Träume ranken, erreichen. Kruso, der vom westlichen Freiheitsmodell nichts hält und dennoch ein Regimegegner der DDR ist, versucht deshalb, Hiddensee in ein Inselparadies zu verwandeln. Niemand, der in Freiheit leben will, soll dafür mit seinem Leben bezahlen.
"Die Freiheitsideologie Krusos ist gespeist aus einem eigenen Trauma und dieses Trauma erdet dann die Geschichte auch wieder. Seine Schwester ist wahrscheinlich über die Ostsee geflohen, ist wahrscheinlich umgekommen. Und Krusos Trauma, das ist die eigentliche Motivation für diese Freiheitsphilosophie und -Praxis. [...] Keiner soll fliehen, alle sollen da bleiben und versuchen, die Wurzeln ihrer Freiheit, unter den gegebenen Umständen auf dieser Insel, die sowieso eine eigene, eine magische Wirkung, nach Kruso, ausübt, zu finden. Alle sollen seinen Weg gehen und nicht diesen Weg, auf dem man mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Tode kommt."
Versteht man den Namen von Krusos Schwester Sonja als Anagramm, dann wird aus Sonja Jonas. In der biblischen Erzählung vom kleinen Propheten weigert sich Jona, einen ihm von Gott übertragenen Auftrag auszuführen und flieht. Doch das Schiff, auf dem er Zuflucht gefunden hat, gerät in Seenot und als die Seeleute erfahren, dass er der Grund für Gottes Zorn ist, werfen sie ihn über Bord.
Jonas Glück ist, dass ihn ein Wal verschluckt, der ihn nach drei Tagen aufs Land spuckt. An dieses Gleichnis ist man versucht zu denken, wenn Kruso bei seinen Inselwanderungen darauf hofft, seine vermisste Schwester zu finden. Als sie ihn vor Jahren am Strand zurückließ, sollte er auf sie warten. Jona geht nach seiner Rettung doch nach Ninive, obwohl er eigentlich in die zum Untergang verurteilte Stadt nicht wollte. Für Jonas Zwiespalt interessiert sich Uwe Johnson in der Erzählung "Jonas zum Beispiel", wenn er sich im Rückgriff auf die biblische Geschichte mit der Frage auseinandersetzt, was von seiner Flucht aus der DDR in die Bundesrepublik zu halten ist. Lutz Seiler greift dieses Thema in "Kruso" auf. Doch anders als Jona in Johnsons Geschichte, bleibt Sonja in seinem Roman verschwunden.
"Er nimmt dann am Ende Ed das Versprechen ab, sich um Sonja zu kümmern und Ed erfüllt dieses Versprechen, indem er sich auf die Suche nach Sonja macht. Das erzählt der Epilog und der Epilog ist tatsächlich ganz anders in der Erzählweise, weil Ed dann selbst spricht und Ed erzählt anders als der Erzähler."
"Die Toten waren auferstanden"
Die Freundschaft zwischen Ed und Kruso erinnert ebenso an die Freundschaft zwischen Robinson Crusoe und Freitag wie an die deutsch-sowjetische Freundschaft, auf die sich in den DDR-Nachkriegsjahren Hoffnung gründete. Eds und Kusos Wege trennen sich, als nach der Maueröffnung nicht nur die DDR, sondern auch der "Klausner" untergeht. Seiler lässt in seinem Roman allen Figuren, auch den Toten, Gerechtigkeit widerfahren. Indem er an die Toten erinnert, holt er sie vom Meeresgrund wieder nach oben.
"Die Toten waren auferstanden – kein anderer Gedanke fand Platz in seinem Schädel, nach allem, was geschehen war. ‚Seht die Signale', murmelte Ed, die ganze Bucht war voll davon, auferstanden, zurück vom Grund, von ihrer Flucht, von dort, wo sie gewartet hatten, all die Zeit, auf diesen Tag – das Meer gab seine Toten frei." (Kruso, 433)
Im Epilog seines Romans verfolgt Lutz Seiler das Schicksal derer, die es nicht über die Ostsee geschafft haben. Im Februar 2014, als die Frist für die Abgabe des Roman-Manuskripts bereits verstrichen war, fuhr er ein letztes Mal zu Recherchearbeiten für den Epilog nach Dänemark.
Er wollte herauszufinden, wo die ertrunkenen Flüchtlinge geblieben sind. Zusammen mit zwei dänischen Kriminalisten der Forensik betrat er 25 Jahre nach dem Mauerfall als erster das Vermisstenarchiv, das "Museum der Ertrunkenen", wie Ed im Roman die Katakomben nennt. Ed löst damit sein Kruso gegebenes Versprechen ein. Er hat sich um Sonja gekümmert. Aber gefunden hat er nicht sie, sondern Speiche, dessen Platz im "Klausner" er im Sommer 89 eingenommen hatte, als Speiche verschwunden blieb.
"Es war nicht möglich, einfach abzubrechen mit der Geschichte. [...] Es wurde dann eben dieser Epilog, der relativ nah ist bei dem, was ich in der Recherche erlebt habe. Also die Namen stimmen und der Erkenntnisfortschritt, der aufgezeichnet wird, stimmt und auch. Dass eben da unten, in diesem Keller, bei den Toten, so wie es Ed sagt, bis dahin nie jemand gewesen ist, sodass man im Grunde bis heute nicht von diesem Archiv weiß. Das war natürlich ein Glück in dem Sinne, dass ich wirklich etwas herausbekommen habe, was man bisher noch nicht wusste. Und zum anderen habe ich dann in der Arbeit selbst, innerhalb dieses Auftrags, den mir das Manuskript gegeben hat, gespürt, dass der Epilog so eine Art Gegengewicht zum Hauptteil bildet, dass er das Ganze noch einmal auffängt. [...] Es ist so eine Art Konklusion des Ganzen und macht einen Schritt bis in die Gegenwart, heraus aus diesem doch begrenzten Erzählraum Sommer 89. Als ich dann Ed da am Grab auf dem russischen Friedhof zu sitzen hab und er mit Speiche spricht, also fiktiv spricht, habe ich gemerkt, das ist wirklich ein gutes Ende."