Lydia Davis

Von Tobias Wenzel |
Was versucht Lydia Davis im Wald freizulegen? Inwiefern ist ihr Hund ein Baum? Und von wem möchte die Autorin wenigstens einmal im Jahr besucht werden?
Lydia Davis steht in einem Waldstück 200 Kilometer nördlich von New York City und schiebt mit ihren Füßen vertrocknetes Laub beiseite. Ein Stein kommt zum Vorschein. Sie geht in die Knie, um mit ihren Händen weiterzuarbeiten. Die Fransen ihres Schals berühren den Boden.

"Ich befreie die Grabsteine vom Laub, um zu sehen, ob darauf etwas geschrieben steht. Und ich will verhindern, dass sie noch tiefer begraben werden."

Der Wald hat den Friedhof aus der Mitte des 19. Jahrhunderts erobert. Rund 30 Grabsteine ragen aus dem Laub hervor. Doch wer weiß, wie viele Gedenksteine der Waldboden schon geschluckt hat.

"Einige Grabsteine sehen dem Felsgestein hier ganz ähnlich. Da ist es schwer zu sagen, ob man einen Grabstein freilegt oder ein kleines Stück natürlichen Felsen."

Der Felsen ist hörbar zur Ware geworden. Alle paar Minuten fallen Sattelschlepper Lydia Davis ins Wort, donnern über die Straße, die den Wald durchzieht; die einen mit Felsbrocken beladen, die anderen leer, um Nachschub aus dem nahen Steinbruch zu holen. Einen halben Kilometer breit ist das helle Loch schon, das die Maschinen in den Wald gefressen haben. Noch 800 Meter trennen den Steinbruch von diesem Friedhof.

Lydia Davis auf dem Friedhof im Wald von East Nassau (Bild: Tobias Wenzel)


Lydia Davis ist aufgestanden und umfasst mit ihrem Wollhandschuh den dekorativen Aufsatz eines verrosteten Zauns.

"Sie haben diesen schönen Zaun gebaut. Und jetzt sind die Toten hier alle vergessen. Ich kenne die Familiennamen, Root und Beers, von den Briefkästen hier in der Umgebung. Aber ganz offensichtlich kommen die Menschen, die in diesen Häusern leben, nicht hierhin, um die Grabsteine zu pflegen."

Den verborgenen Friedhof entdeckte die Autorin von Kurzgeschichten, als ihr Hund sie bei einem Spaziergang schnüffelnd in dieses Waldstück zog:

"Mein Hund lebt übrigens nicht mehr, wenn wir schon beim Thema Friedhof sind. Ich glaube, der Tod gehört zu den Dingen, an die ich mich nie gewöhnen werde. Nach dem Tod unseres Hundes haben wir einen Baum über seinem Grab gepflanzt. Jetzt ist der Baum für mich der Hund."

Schwieriger sei das mit ihren verstorbenen Eltern. Manchmal, wenn sie gerade eine spannende Neuigkeit gehört hat, vergisst Lydia Davis für einen Augenblick, dass ihre Mutter tot ist:

"Dann sage ich mir: Jetzt muss ich mich wirklich bei meiner Mutter melden, um ihr das zu erzählen. Da denke ich dann: Wenn uns die Toten doch wenigstens einmal im Jahr besuchen könnten – das wäre schon schön."

Der nächste LKW fährt vorbei, um im Steinbruch neue Felsbrocken zu laden. Irgendwann fressen sich die Fördermaschinen vielleicht bis zu dem Waldstück durch, in dem Lydia Davis nun steht, das Laub bis zu den Knöcheln. Dann tragen sie auch diesen sinkenden Friedhof ab. Wahrscheinlich wird ihn niemand vermissen. Niemand außer Lydia Davis.

"Lydia Davis, Root family and Beers family cemetery, East Nassau, New York"

Tobias Wenzel ist um die Welt gereist, um Schriftsteller auf Friedhöfen zu treffen - SerieFriedhofsbesuche