Lyrik

Altes Lied aus der Raumer Straße

Von Marko Martin |
Der in Sachsen geborene Schriftsteller Bernd Wagner zeigt sich in seinem Gedichtband "Den Berliner Blinden" als poetischer Zeitchronist - und ebenso subversiv wie originell. Dem außergewöhnlichen Buch sind viele Leser zu wünschen.
"Ostwestberlin" hieß ein Prosaband, den der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich im Jahre 1987 veröffentlichte. Da lebte der gebürtige Vogtländer bereits neun Jahre in Westberlin, während der gebürtige Sachse Bernd Wagner 1985 aus der DDR ausgereist war.
Seither als im wahrsten Wortsinn freier Schriftsteller in Kreuzberg ansässig, hat er - ebenfalls Autor verblüffend origineller Erzählungen und Romane - nach langer lyrischer Abstinenz nun wieder einen Gedichtband mit dem Titel "Den Berliner Blinden" vorgelegt. Das ist doppelsinnig: Wagner, der passionierte Stadtgänger, hatte eines Wintertages in einem Geschäft der Berliner Blindenanstalt ein rotes Notizbuch erworben, dass daraufhin zur Einladung wurde, wieder Verse zu schreiben, sensitiv und voll urbaner Aufmerksamkeit.
"Versteck dich nicht./ Doch schlag dich in die Büsche,/ wenn auf dich zurollt die Walze hart umkämpfter Zeit/.../ doch fahr nicht aus der Haut:/ Dein Zorn ist zu alt für diese Welt."
Im Gegensatz zu den historisch und sozial Blinden, dem modischen juste milieu der neuen Hauptstadt, sieht dieser 1948 geborene Solitär nämlich sehr viel, und wie ein Weberschiffchen gleiten die Assoziationen zwischen Ost und West, von der Jugend ins Alter - ohne jemals erwartbar oder gar grämlich zu sein. So heißt es etwa im Gedicht "An eine italienische Serviererin" voll souveräner Selbstironie:
"Ich bin alt, gewiss, und werde ständig älter./ Doch auch du trägst unterm Kinn schon einen Fingerhut voll/müden Fleischs, dessen Süße ich gern kosten würde./.../ Komm.., ich lehre dich die hohe Kunst des Scheiterns und/ wie unbemerkt und schnell daraus die Lust zum Leben wächst."
"Die Welt zirkuliert nun frei zwischen den Säulen des Brandenburger Tores"
Wagner, kein Mitfahrer im Karussell der Stipendien und Literaturpreise, hat lange als Landvermesser gearbeitet, doch ist daraus nicht etwa kafkaeske Düsternis entstanden, sondern eine Berlin-Literatur (lyrische Ausflüge an den ehemaligen Grenzübergang in Dreilinden inklusive), die ein "Altes Lied aus der Raumer Straße" ebenso authentisch anzustimmen weiß wie eine Ode auf "Die dritte Stadt", eben jenes heute längst nicht mehr zugemauerte Ostwestberlin:
"Der Wind zirkuliert nun frei zwischen den Säulen des Brandenburger Tores/ Wall heißt eine Werbefirma und baut Toilettenhäuser./ Es ist mir recht."
So oft aber auch von der vergangenen Bohéme-Welt zwischen Kohleöfen, Gasometern und den Kreuz- und Prenzlauer-Berg-Kneipen die poetisch strukturierte Rede geht - die erinnerten Dinge transzendieren und werden zum listigen Einspruch gegen den nicht zuletzt ästhetischen Leerlauf der gängigen Amnesie:
"Ich fürchte, wir haben das Singen verlernt, seit Benn seine/ Praxis/ liquidierte. Die Kraft reicht nur noch zum Leben aus, zum/ eiligen/ Marsch durch die Straßen."
Was bei all dem aber wohl am Berührendsten ist und den Band aus der Masse des konventionellen Kulturpessimismus heraushebt, ist die Abwesenheit jeglicher selbstgerecht statischen Attitüde. Stattdessen schreibt Bernd Wagner:
"Und nein, nicht Prinz Charles bin ich im preußischen Exil./ Auch nicht Pole, der die Autoscheiben wäscht. Nein, ich bin/ ein Sachsenkind, gebürtig aus Wurzen an der Mulde,/ das täglicher immer kleiner wird und das es in Bälde nicht mehr gibt."
Man wünscht diesem außergewöhnlichen Buch viele Leser.

Bernd Wagner: Den Berliner Blinden. Gedichte
Projekte Verlag, Halle 2013
92 Seiten, 15 Euro