Lyrik aus Georgien

"Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte"

Buchmesse in Frankfurt am Main 2017
Georgien hat eine vielfältige Literaturszene. Im Herbst kann man das in Frankfurt am Main erleben. © picture alliance/dpa/Fabian Sommer
Von Norbert Hummelt |
Georgien, das Gastland der Herbstbuchmesse in Frankfurt am Main, ist ein Land im Umbruch – das spiegelt sich auch in der Lyrik. Nach dem Ende der Sowjetunion musste sich die junge Generation neu erfinden. Wir haben einige der Lyrikerinnen und Lyriker getroffen.

O, Mtazminda, heiliger Berg, deine Gegenden
Die mich anfallen, die bestürzenden, wüsten, öden
Wie schön sie sind, wenn der Himmelstau auf sie fällt
Wenn am milden Abend blasse Strahlen nur bleiben!

Mtazminda bedeutet Heiliger Berg, es ist ein heiliger Ort für Georgien. Unter den georgischen Dichtern gibt es die Vorstellung, man könne selbst würdig genug sein, dort begraben zu werden. Aber niemand sagt laut, dass er an diesem Ort bestattet werden möchte.
Ich habe immer das Bedürfnis, zu diesem Ort zu gehen. Wenn ich die Verbindung suche zu einem meiner Lieblingsdichter, dann gehe ich nach Mtazminda, das ist für mich die richtige Verbindung in den Himmel der Literatur, der Dichtung. Das ist ein Treffpunkt.
"Ich bin in diesem Viertel groß geworden, meine Familie, Elternfamilie gehören zu diesem Stadtbezirk, wo Mtazminda-Berg sich befindet, das war für uns auch Besonderheit, wollen wir jetzt nach Mtazminda, nach dem Berg gehen. Und ich als Studentin dann mit meine Kommilitonen immer dahin gegangen, zu Dichtergräber, die Gedichte laut zu lesen. Vorlesen."
Der 750 Meter hohe Mtazminda ist der Hausberg der georgischen Hauptstadt Tiflis. Mit einer Zahnradbahn gelangt man hinauf und kann von der Höhe herab die ganze Stadt überblicken, die sich an beiden Ufern des Flusses Mtkwari von West nach Ost zieht. Unten brandet der Verkehr entlang des Rustaweli-Prospekts, benannt nach Schota Rustaweli, dem Dichter, der im 12. Jahrhundert das georgische Nationalepos verfasste: "Der Recke im Tigerfell" oder "Der Recke im Pantherfell", je nach Übersetzung.


Auf halber Höhe des Berges steht eine Kapelle, die Dawit gewidmet ist, einem der 13 syrischen Heiligen, die im sechsten Jahrhundert das Mönchtum nach Georgien brachten. Dawits Kapelle soll über Jahrhunderte als einziges Bauwerk der Stadt alle feindlichen Eroberungen überstanden haben. Zur literarischen Pilgerstätte wurde der Ort 1915, als hier der Dichter Akaki Zereteli beigesetzt wurde. Seit 1929 dient der kleine Friedhof als Pantheon für kulturelle Persönlichkeiten, man brachte auch die Überreste längst Verstorbener hierher. Wie diejenigen des Lyrikers Nikolos Barataschwili, der wie viele Dichter diesen Berg besang.
Die georgische Hauptstadt Tiflis
Die georgische Hauptstadt Tiflis mit Blick auf den Berg Mtazminda.© imago/Rainer Unkel

Welches Geheimnis, Mtazminda, das dann deine Umgebung einhüllt
Und welcher Anblick dem Wanderer auf deinem schön gebogenen Hügel
Unten ausgebreitet die schöne Ebene, wie zum Abendmahl schmücken sie Blumen
Und, wie Weihrauch zum Dank dir, spenden sie, Mtazminda, ihren Duft.

Der mag Shakespeares Hamlet, der kennt tiefe Gedanken.
Nikolos Barataschwili, der in dem Gedicht "Abenddämmerung auf dem Mtaziminda" den heiligen Berg besang, verstarb 1844 im Alter von nur 27 Jahren an Malaria. Er hinterließ einige Dutzend handschriftlicher Gedichte, die zunächst in Vergessenheit gerieten. Im Zuge der nationalen Erneuerungsbewegung ab den 1860er-Jahren wurden sie neu entdeckt. Für den Dichter Besik Kharanauli ist er ein wichtiger Vorläufer.

Andere Ästhetik durch Shakespeare-Übersetzung

Seit Schota Rustaweli war ein 16-silbiges Versmaß allgemein vorherrschend in der georgischen Dichtung. Danach passierte lange nichts, die 16-silbige Strophe war beliebt bis etwa 1800. Barataschwili aber hat ein 15-silbiges Versmaß, darin liegt eine bestimmte Denkweise. Durch die Übersetzung von Shakespeares Tragödien ist eine ganz andere Ästhetik in die georgische Lyrik gekommen. Auch die Volksdichtung ist wieder ganz anders, dort gibt es ganz andere, vielfältige Formen. Von ihnen ließ sich ein Lyriker wie Wascha Pschawela inspiriere
"Der Wascha Pschawela, ja, der ist für uns sehr besonderes Thema, sein großer Wunsch war, nach Deutschland zu kommen, um Philosophie zu studieren, der war damals von Hegel oder so begeistert, aber damalige Literaten haben so entschieden, dass, wenn wir Wascha Pschawela als ein Dichter nach Deutschland schicken, Philosophie zu studieren, dann bekommen wir ein zweitrangigen Philosophen und verlieren wir ein erstrangigen Dichter. Und deshalb haben sie Stipendium nicht gegeben, so ist es."
Die Lyrikerin Bela Chekurishvili, geboren 1974 in Gurjaani in der ostgeorgischen Provinz Kachetien, lebt in Deutschland und studiert in Bonn Komparatistik. Auf Deutsch liegen zwei Gedichtbände von ihr vor, "Wir, die Apfelbäume" und "Barfuß", beide im Verlag Das Wunderhorn erschienen.


Lyrik spielt in Georgien traditionell eine sehr wichtige Rolle und wird bis heute weitaus intensiver gelesen als in Deutschland. Die Überlieferung der eigenen Geschichte geschah in Versepen, erst im 20. Jahrhundert wurden erste Romane in georgischer Sprache geschrieben. Es ist noch eine ganz junge Entwicklung, dass auch Dichter den Roman als schöpferische Möglichkeit für sich entdecken, aber die Lyrik ist die literarische Grundsprache Georgiens geblieben.
Georgien liegt zwischen dem Großen und dem Kleinen Kaukasus, es grenzt im Westen ans Schwarze Meer. Kolchis heißt diese fruchtbare Gegend noch immer, die Argonauten suchten dort das Goldene Vlies und Jason fand Medea. Griechen, Römer, Perser, Mongolen, Türken und Russen kolonisierten oder überfielen das Land, das als Wiege des Weinbaus gilt und für seine Küche und seine Gastmähler berühmt ist, bei denen man den Wein aus Hörnern trinkt, möglichst in einem Zug, und viele Trinksprüche überstehen muss.
Kleiner Kaukasus in Georgien
Blick auf den Kleinen Kaukasus, Georgien© picture alliance/dpa/Foto: W. Korall

Die Dichtergruppe "Blaue Hörner"

Tradition bleibt freilich nur lebendig, wenn sie in Frage gestellt wird. 1915 formierte sich in der westgeorgischen Stadt Kutaissi eine Dichtergruppe, die sich die "Blauen Hörner" nannte. Sie suchten Anschluss an die westeuropäische Moderne.
"Sie nannten sich Symbolisten, und besonders haben sie Baudelaire übersetzt. Und einige von Blauen-Horn-Dichter in Paris auch studiert haben und die in seinem Manifest sagten, dass alles, was sie möchten, jetzt, ist französische, europäische Modernismus mit orientalische Dichtung verbinden, eine Verbindung machen. Und ihm hat es gelungen, möchten wir sagen, ja, unsere Wurzeln geht tief in Orient, die Bösen Blumen von Baudelaire mit Hafis, mit Rosen von Hafis verknüpfen, so steht in Manifest."
Zum Gründerkreis der "Blauen Hörner" gehörte auch Galaktion Tabidze, der virtuoseste georgische Lyriker des 20. Jahrhunderts.

Im Staub der Stadt das hingestürzte Kind:
Rehkitzaugen, Haar wie von Mimosen.
O Gefühlsaufruhr! Im leichten Wind
Blaue Engel dann, die schwerelosen –

Laut lacht die Straße, ein verrückt Gesicht

Schreit: Dein Elternhaus blieb weit im Gestern!
Unterm Alutscha-Baum im Blütenlicht
War einst dies Kind und sanftes Lied der Schwestern

Die jüngere Geschichte Georgiens wird bis heute von den 70 Jahren geprägt, in denen das Land zur Sowjetunion gehörte – nicht zuletzt, weil für lange Zeit mit Joseph Stalin der berühmteste Georgier an deren Spitze stand. Mitten in der Stalin-Zeit wurde Besik Kharanauli geboren. 1939 kam er in der kleinen Stadt Tianeti zur Welt, nordöstlich von Tbilissi, wie die Hauptstadt Tiflis auf Georgisch heißt. In seinen Gedichten kehrt er immer wieder in den Heimatort zurück.
"Meine Kindheit war so schön, ich möchte sie immer wieder erleben, sie war so vielfältig und nicht voller Leid, sondern voller Leidenschaften. Ich ging über die Dorfstraße und wartete auf irgendwelche Stimmen, weil rechts und links nichts passierte, ich habe vielleicht auf die Inspiration gewartet. In Tianeti passierte damals nichts und heute auch nichts. Und es wird vielleicht auch in Zukunft nichts passieren."
In dem 1978 veröffentlichten Langgedicht "Die Kartoffelernte" beschreibt Besik Kharanauli, wie er als Kind von der Mutter zur Arbeit angehalten wurde, und bringt damit eine Grundmelodie seines Lebens zum Schwingen.

"Morgen müssen wir die Kartoffeln ausmachen!"
Das waren deine Worte.
Und damit schobst du den Stuhl ans Bett,
auf den,
sobald das Licht aus war,
die Anziehsachen kamen.
Ich aber drehte mich zur Wand.
Auf diese Weise gab ich zu verstehen:
Die Botschaft hab ich wohl gehört,
erlaube mir nur, anzufügen:
Ich habe morgen was ganz anderes vor.
Ich war fünfzehn,
morgen war ein Sonntag
und ich hatte was Bestimmtes vor.

Besik Kharanauli gilt als Schöpfer des georgischen vers libre. Seine Bedeutung für die georgische Lyrik verglich ein Kritiker mit derjenigen von T.S. Eliot und Ezra Pound für die englischsprachige Dichtung. Die freirhythmische, manchmal prosanahe Form seiner Verse ist eine Errungenschaft, mit der sich Besik Kharanauli von der georgischen Lyrik der Sowjetzeit absetzte. Diese Lyrik war konventionell gereimt, nicht artistisch wie die Verse der "Blauen Hörner". Lyrik in der Sowjetzeit musste allgemeine Ideen formulieren, der Gesellschaft und dem Fortschritt dienen. Mit der von ihm geschaffenen neuen Form brach Kharanauli auch inhaltliche Tabus. In dem Langgedicht "Die behinderte Puppe" von 1972 schlug er einen radikal subjektiven Ton an, wie er in der georgischen Lyrik noch nicht gehört worden war.
Das Gegenteil eines rüstigen Werktätigen tritt uns darin entgegen: ein vom Leben geschlagener Mensch, dessen einzige Heldentat darin bestehen mag, überhaupt morgens aufzustehen – und es endet mit der Phantasie einer Rückkehr in den Mutterschoß. Zusammen mit vier anderen Langgedichten erscheint dieser Text nun erstmals auf Deutsch in dem Band "Sprich mir vor, Angelina! – Fünf Poeme" im Dagyeli Verlag.

Quellen, die älter waren als die sozialistischen Normen

Kharanauli schöpfte aus Quellen, die älter waren als die sozialistischen Normen. Reimlose freie Verse wurden seit langem in der kirchlichen Hymnik verwendet, vor allem aber hatte der Dichter einen sehr eigenen Zugang zur georgischen Volkspoesie.
"Als Kind musste ich meine Oma zu Trauerfeiern begleiten, bei denen Klagelieder angestimmt wurden, eine Form der georgischen Volksdichtung, das hat mich beeinflusst. Ich war 14, als eine Tiflisser Zeitung meine zwei ersten Gedichte druckte. Beide waren ohne Reim. Die Klagedichtung ist nicht gereimt, hat aber einen bestimmten Rhythmus und eine bestimmte Form. Später konnte meine Oma sich nicht mehr bewegen, aber sie hörte Rundfunk, und wenn ich nach Hause kam, erzählte sie mir, was sie gehört hatte, ob es traurig war oder nicht. Und dann habe ich begriffen: Einen Menschen traurig zu machen, ist wichtig, um ihn wach zu machen. Das Herz muss sterben, um wieder aufwachen zu können."
In dieser Erkenntnis liegt der Schlüssel zu Besik Kharanaulis Poesie: Indem es sich der Traurigkeit stellt und auch der Depression zum Ausdruck verhelfen kann, wird das Gedicht zum Wendepunkt. Das zeigt sich beispielhaft in dem kurzen Gedicht "Der Storch".

"Wenn ich bäuchlings
in die Federn plumpse

und mein Gesicht
im Kopfkissen verberge
und die Hände
seitlich sacken lasse,
weißt du,
wer mein Vorbild ist?
Es ist der Storch, mein Lieber,
den ich imitiere,
den der Jäger abschoss,
als ich Kind war.
Mit derart stillgestelltem Leib
stürzte er zur Erde nieder,
so steckte er den Kopf in den
vom Regen aufgeschwemmten Acker,
so ließ er seine Flügel sinken,

gab den Geist auf.

Es ist bemerkenswert, wie dieses eigentlich so schwermütige Gedicht im Leser paradoxerweise ein Glücksgefühl auslösen kann. Die klaren Bilder, ein starker, einfacher Ton, die schnörkellose Diktion und besonders der straffe Rhythmus bewirken eine Entlastung.
Die Form folgt einer bestimmten Idee, wie beim "Storch", sie fällt ja nicht vom Himmel, sondern weil der Storch erschossen wurde vom Jäger. Jede Idee prägt eine eigene Form.
Mit der Wendung zu einer subjektiven Wahrheit, weg von ideologischen Vorgaben, wird Kharanauli zu einem Vorbild für nachfolgende Dichtergenerationen, insbesondere für die "Wende-Generation" der um 1970 Geborenen, die gerade ihr Leben und Schreiben in die Hand nehmen wollten, als die Sowjetunion zerfiel. Die Erkundung des Sagbaren nach Jahrzehnten der Reglementierung ist dabei der wichtigste Antrieb, formale Experimente spielen in der georgischen Lyrik eine untergeordnete Rolle. Dennoch gibt es Ausreißer wie den in Schweden lebenden Performance-Künstler Zurab Rtveliashvili, der in dadaistischer Manier eine Art Super-Ego inszeniert:

"Der Meister des Wortes
warf dem jeansfarbenen Himmel
ein Ei entgegen,
die Sonne sieht so aus
wie
das Ziffernblatt
einer Quartzuhr,
ich
sage mit meiner Stimme das,
was ich im Lärm der Strophen
nicht gesagt habe –
ich lasse die ausgelutschten Wörter
im Wörterbuch."

Zurab Rtveliashvili, Jahrgang 1967, war als Aktivist in der antisowjetischen Opposition aktiv. Auch für jüngere Schreibende bleibt die Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Erbe der entscheidende Bezugspunkt.
"Was Umbruch überhaupt bedeutet, haben wir gar nicht verstanden. Ich war damals jung, verliebt, gleich in Heirat gegangen, gleich Kind bekommen habe: Wir dachten, was passiert, was ist eigentlich? Wie kann an einem Tag Sowjetunion verschwinden? Was tatsächlich diese Unabhängigkeit bedeutete, das war absolut unklar. Vielleicht für meine Eltern oder für diese Generation, die damals schon wach waren. Wir waren sehr jung dafür. Wir hatten unsere Themen. Unsere Abenteuer."
Zurückgeworfen zu sein auf sich selbst ist die Grunderfahrung dieser Generation, zu der auch die 1969 geborene Lyrikerin Nato Ingorokva gehört. Aufgewachsen in einem kleinen Dorf, ging sie zum Studium nach Kiew. Heute lebt sie wie fast alle georgischen Autoren in Tiflis.
"In der georgischen Gesellschaft ist es für Männer und Frauen schwer, zu schreiben, denn davon kann man nicht leben. Unter den Dichterinnen gibt es Frauen, die starke Männer haben, die sie unterstützen. Andere müssen ihr Brot selbst verdienen und kämpfen um ihre Existenz."

Suche nach einem selbstbestimmten Leben

Die Suche nach einem selbstbestimmten Leben spiegelt sich in der Suche nach der angemessenen literarischen Form.
"Gedichte in freien Formen waren nicht einfach für georgische Leser, sie waren an gereimte Lyrik gewöhnt, und es gab auch neue Themen nach der Wende, das Ich trat in den Vordergrund wie vorher nur bei einzelnen Dichtern wie Besik Kharanauli oder Lia Sturua. Früher gab es patriotische Themen, Allgemeines über Liebe, Vergangenheit, Kultur, diese Themen waren gesetzt. Die Wendegeneration setzt die selbst erlebte Liebe und Leidenschaft dagegen, soziale Themen, Frauenthemen."
"Reim oder Rhythmus sitzt uns in Ohren und im Blut, kann man sagen, damit sind wir groß geworden, deshalb, oft verwenden wir gereimtes Gedicht auch, wenn wir schreiben, aber nicht mehr so geschlossen wie damals war es, Reim ist auch frei geworden, sehr viele Autoren, die immer noch Reimschemen anwenden, aber das ist absolut andere, wie es damals gab, wie es Galaktion Tabidze machte zum Beispiel, der war ein Virtuose der gereimten Dichtung, der hat immer mit zahlreiche Reimpaaren oder so gespielt, für uns, das ist nicht mehr Ziel, unsere poetische Ästhetik ist so, dass Reim dient uns, und wir dienen nicht mehr vor Reim."
Ein Virtuose des Reims war auch Rainer Maria Rilke. Er ist bis heute in Georgien sehr beliebt, seine Gedichte liegen in zahlreichen Übersetzungen vor. Auch Nato Ingorokva hat Rilke übersetzt, darunter den gesamten Zyklus der Duineser Elegien.
"Es war für mich die beste und allerwichtigste Entscheidung, Rilke zu übersetzen – die Beziehung zum Wort habe ich darin entdeckt."

Es gibt kaum direkte Übersetzungen georgischer Lyrik

Für ein kleines Land wie Georgien ist zur Aneignung der Weltliteratur das Übersetzen lebenswichtig. In umgekehrter Richtung ist der Prozess schwierig, da die georgische Sprache selbst von Menschen nicht beherrscht wird, die ihr Leben lang dieses schöne Land bereisen – sie verlassen sich auf die guten Deutschkenntnisse vieler Georgier. Das hat zur Folge, dass es so gut wie keine direkten Übersetzungen georgischer Lyrik gibt. Stattdessen entstehen Nachdichtungen auf der Grundlage von Interlinearübersetzungen – sinngemäßen Wort-für-Wort-Wiedergaben, die von georgischen Übersetzern angefertigt werden; mit diesen Vorlagen arbeiten deutschsprachige Lyriker und entwerfen aus ihrem eigenen Sprachgefühl, wie dieser oder jener georgische Dichter auf Deutsch klingen könnte.
"Heute leben nicht wenige Georgierinnen und Georgier in Deutschland, so wie Bela Chekurishvili. Die Heimat und der Schritt hinaus sind wichtige Motive ihres Schreibens."

Einfache Fahrt
"Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte,
ohne Aufstand, Lärm, Theater,
hab den Brunnen nicht vergiftet, noch verbrannte ich die Brücken hinter mir.
Ohne Kommentar bin ich gegangen,

so wie es die Helden in den Büchern tun,
in ein Jenseits oder Diesseits,
und sie wissen immer, das ist Schicksal, und sie stellen keine Fragen.

Hab gedacht, ich komme niemals wieder,
und in den Erinnerungen, die Bedeutung haben,
strich ich alle wesentlichen Namen,
und jetzt ist dort nur ein weißer Fleck:
Die weißen Strümpfe von der 1.- Mai-Parade,
der Backofen von Großmutter mit dem frischen Brotgeruch,
und Großmutter ist selber weiß geworden, weiß vom Mehl und von den vielen Jahren.
Vaters Garten der Wassermelonen und Großvaters Weinberge nicht zu vergessen.

Fortgegangen bin ich ohne Rückfahrkarte.
Vielleicht erscheint es manchem auch als Flucht.

"Auch für die im Land verbliebenen Dichterinnen und Dichter hat sich das Heimatgefühl verändert. In einem Gedicht von Nato Ingorokva mischen sich Nähe und Distanz."

Die Empfängerin
"Schreibe ihr ruhig, dass du sie liebst,
schreib es ihr im offenen Verkehr,
(wozu denn im verschlossenen Kuvert).
Sag es ihr über die Fernsehkanäle,
gib es ihr im Radio bekannt,
bei Facebook postet man es ja schon eifrig
(und dort wird es dann
"geliked").

Und dann bekommst du Kommentare,
andere sagen es an ihrer Stelle.
Sie selber zieht es vor, zu schweigen
(kennt man),
sie hat Zeit,
eine ganz spezielle Weise, wie man Liebe zeigt.

Nun aber los, jetzt hau schon in die Tasten,
es macht doch gar nichts, dass du nicht mehr gerne Briefe schreibst.

Sag ihr,
dass das Licht verhindert war,
noch zu uns zu kommen.
Und Freiheit nur für Einsame gemacht.
Und Würde eine Eigenschaft des Lebens
(der Tod hat nicht an sie gedacht).
Und auch, dass die Peinlichkeit
(wenn jene, die sich lang nicht sahen,
nicht die rechten Worte finden)
an der Oberfläche bleibt.

Schreib ihr,
dass sie dir nur dann einfällt,
wenn sich niemand bei dir meldet,
aber du ganz dringend jemand brauchst, dich mitzuteilen.

Rück damit heraus,
wie hart es ist in der realen Welt,
wo wir uns nur heimlich lieben.

Wo jetzt einfach Herbst ist –
doch sie, die Heimat, ist daheim geblieben.

"Als ich das schrieb, war ich in Georgien. Es geht um den Krieg von 2008, die russische Armee stand in der Nähe von Tiflis, Abchasien ist immer noch besetzt und das sogenannte Südossetien. Als die Truppen ganz nahe waren und die Leute nur noch im sozialen Netz protestierten, konnte man nur noch schreiben. Und mittlerweile ist es so, dass ganz Georgien ins soziale Netz ausgewandert ist. Es geht im Gedicht auch darum, dass alles, unsere Liebesbeziehungen, unser sozialer Protest, jetzt ins virtuelle Leben übertragen ist. Als ob wir die Realität verloren haben. Wir sind weg von unserer Heimat, wir leben jetzt in der virtuellen Welt. Das ganze Georgien, sehr merkwürdig, ist irgendwie weg, das wollte ich mit dem Gedicht ausdrücken."


"Ich bin diejenige, die ausgewandert ist aus der Heimat, weg ist, und lebt in Deutschland jetzt für diese Zeit. Dass diese Auswanderung so ganz aktiv ist jetzt heutzutage, und als ob wir jetzt im Netz einander immer wiedergefunden haben, und so kommunizieren wir, als ob wir immer noch zu Hause sind. Das ist so ganz merkwürdige Realität, ich weiß nicht, was wir dagegen tun können. Und dann Sowjetunion, was für ein Land überhaupt diese Sowjetunion war, das war ein nachgedachtes Land, erfundenes Land. Nicht reales. Dazu, nach der Wende, große Depression, die Georgier sich zerstreut und ganz durcheinander sich gefühlt haben, sie haben jetzt ein anderes Land. Noch eine nachgedachte Welt erfunden, wie Netz, wie Facebook zum Beispiel. So seh ich das."
Wie schmerzhaft und fast unwirklich die Realität sein kann, zeigt ein Gedicht des Lyrikers Zviad Ratiani, 1971 in Tiflis geboren. Es erinnert an die Kriegssituation im Sommer des Jahres 2008, als georgische Truppen unter der Führung des damaligen Präsidenten Saakashvili vergeblich versuchten, die von den Russen kontrollierte Region Südossetien für Georgien zurückzuerobern. Die Antwort des übermächtigen Gegners kam prompt.
Tskhinvali, Südossetien 
Ein zerstörter georgischer Panzer und russische Soldaten in Tskhinvali, Südossetien im August 2008.© imago/UPI Photo

August 2008
Nun sind die üblen Tage da. Die Bomben fielen in der Stadt
die ganze Nacht. Und wir konnten nirgends fliehen.
Als es dämmerte, war der Lärm vorbei. Ich trat auf den Balkon –

in der schrägen Morgensonne schwankten
Bäume aus Rauch, hoch wie Giganten,
die über Nacht emporgeschossen waren

und ihre glosenden Feuerwurzeln
griffen nach den Schlafenden,
die den ewigen Schlaf schon schliefen.

Später will ich sie betrauern,
doch noch ist nicht die Zeit dafür. Mein Herz ist randvoll mit dem Glauben,
dass wir überleben werden, die Meinigen und ich, und dass die nächste Bombe

in ein anderes Haus einschlägt, womöglich gegenüber,
unser Haus dagegen bleibt verschont. Die Augen hebe ich zum Himmel,
aus dem ich die Gefahr erwarte, und die Hilfe ebenso.

Ich halte meinen Blick an ihn geheftet, um nicht versehentlich
auf das andere Haus zu blicken, wo ein Mann nun den Balkon betritt,
der ebenfalls zum Himmel schaut. Und sein Herz ist auch randvoll mit Glauben.

Dieses Gedicht von Zviad Ratiani zeichnet nicht nur die historische Situation und die empfundene Angst genau auf. Es spiegelt auch die tief verwurzelte Religiosität, die zumindest noch bis in die Wende-Generation hineinreicht. Inzwischen ist eine andere Generation nachgewachsen, die der digital natives, die den doppelten Entfremdungsprozess weniger stark empfinden, da sie die Sowjetherrschaft allenfalls noch als kleine Kinder erlebten. Auch dieses neue Bewusstsein findet Ausdruck im Gedicht. Ironischer, distanzierter ist der Umgang mit der Tradition geworden, weniger von Pathos geprägt. Wie in einem Gedicht des 1983 geborenen Paata Shamugia.

Rollentausch
"He Gott, lass uns mal Rollen tauschen!
Sei du doch mal Paata Shamugia –
und ich bin dann der Gott.
Ist nicht so schwer, wie’s aussieht,
Du musst nur ein wenig Gewicht verlieren,
Deine Haare anders machen, wachsen lassen,
Sneakers tragen, und über Nacht drei Schachteln rauchen.
Bisschen langweilig vielleicht, aber
Du musst dich schlau anstellen
(Ruinier bloß nicht mein Image, ich habe dafür sehr geschuftet).

Jeden Morgen wachst du auf dem ollen Campus auf,
von Zeit zu Zeit kriegst du `nen Anruf
von deinem zeitweiligen Vater (meinem alten Herrn),
es ist okay, wenn er dir einen Vortrag hält,
weil du nicht arbeitest,
du gewöhnst dich dran.

Ich mache derweil mit den Engeln rum,
schaffe mir göttliche Manieren drauf
und schau die Erde vom

Ozonloch an,
als wollte ich paar Sachen ändern,
als könnte ich paar Sachen ändern,
als ob ich, letzten Endes,
existierte.

Nicht zufällig benannte Paata Shamugia sein lyrisches Debut "Pantherfell" 2006 nach Schota Rustawelis Epos aus dem 12. Jahrhundert: Bei aller Ironie ist der Rückbezug nicht wegzudenken. Georgien ist heute ein sehr widersprüchliches Land, zerrissen zwischen Aufbrüchen ins Ungewisse und sehr alten Traditionen. Fast alle Georgier sind bei Facebook, aber in den Bergen des Großen Kaukasus gibt es noch pagane Heiligtümer, an denen den alten Naturgottheiten Tieropfer dargebracht werden – seit Jahrhunderten bestehen diese Bräuche neben dem orthodoxen Christentum.
Blickt man von der mit einem Fernsehturm und einem Vergnügungspark aus Sowjetzeiten gekrönten Höhe des Mtazminda auf Tiflis herab, dann sieht man goldene Kirchenkuppeln ebenso wie postmoderne Architektur und sowjetische Monumentalbauten, und über den Dächern und Balkonen der zerfallenden Altstadt erhebt sich die protzige Residenz des zeitweiligen Premiers und Milliardärs Iwanischwili. Zwischen all den Widersprüchen vermittelt die Literatur, die diese Umbrüche spiegelt und sich auf vielfältige und eigensinnige Weise mit der Tradition auseinandersetzt.

So nun war die Dämmerung auf dem Mtazminda!
O, ihr Gegenden, ich erinnere gut, was ich dachte
Da bei euch ich war, und was ich da zu mir sprach
Und es hält das Herz, welches Glück ihr ihm schenktet.

Mehr zum Thema