Lyrik im Leichenschauhaus
Vor 100 Jahren erschienen neun Gedichte des damals 26-jährigen Gottfried Benn unter dem Titel "Morgue und andere Gedichte" als "lyrisches Flugblatt" im Berliner A. R. Meyer Verlag. Sie machten Benn über Nacht zum "Sensationsautor des Expressionismus". Benn, der mit 19 ein Medizinstudium begann, entführt seine Leser in diesen Gedichten in den Sektionssaal: Bei "La Morgue" handelt es sich um ein Leichenschauhaus.
1912, das ist auch das Erscheinungsjahr von Thomas Manns "Der Tod in Venedig". Doch im Unterschied zu Benn verlagert der elf Jahre ältere Thomas Mann, auch in seiner Novelle geht es um den Tod, den Schauplatz in die Lagunenstadt. In beiden Texten lauert der Tod auf jeder Seite: Gustav von Aschenbach begegnet ihm auf dem Lido, Gottfried Benn assistiert er im Seziersaal. Auffällig sind die Unterschiede. Benns lyrisches Ich schneidet in "Morgue" mit "einem langen Messer / Zunge und Gaumen" heraus. Dagegen schildert Thomas Mann, wie sich ein Schriftsteller aus dem gehobenen Bürgermilieu in einen Jüngling von außergewöhnlicher Schönheit verliebt. Nichts verbindet die beiden Welten, denen sich die Autoren zuwenden. Benn seziert, während Thomas Mann enthüllt.
Schauplatz von Benns "Morgue"-Gedichten ist der Körper. Der Pathologe, der mit dem Messer den Körper aufschneidet und die Organe freilegt, hält dabei stille Zwiesprache sowohl mit dem Schöpfer als auch mit dem Tod. Während er ins Körperinnere eindringt, macht er Entdeckungen. Im Körper eines jungen Mädchens, der vor ihm auf dem Seziertisch liegt, entdeckt er "unter dem Zwerchfell / [...] ein Nest von jungen Ratten". Die Verstorbenen haben mit dem Tod die letzten Hüllen verloren und sind seinem letzten Blick ausgeliefert.
Angesichts der drastischen Bilder, die Benn findet, kann man sich den damaligen Aufschrei der Empörung gut vorstellen. Die Gedichte seien "pervers" und zynisch hieß es in einer zeitgenössischen Rezension. Noch heute geht von diesen Gedichten etwas Verstörendes aus, denn Benn versteht es, die Kälte des Seziersaals in Sprache zu übertragen. Aber wer ihm Zynismus vorwirft, missversteht ihn gründlich. Zynisch verfährt vielmehr das Leben mit denen, die im Sektionssaal landen und denen kein Glück beschieden war.
Benn konstatiert nur. Nichts findet in diesen Gedichten glücklich zueinander. Es dominiert das Nebeneinander. Kommen im Sektionssaal Mann und Frau auf einem Tisch zu liegen, wie in dem Gedicht "Requiem", dann sind sie zwar einander "nah", aber es bleibt eine folgenlose Liaison, denn der Schädel ist "auf" und "die Brust entzwei. Die Leiber / gebären nun ihr allerletztes Mal."
Als Benns "Morgue"-Gedichte vor hundert Jahren in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen, sorgten sie für Aufsehen. Er selber sagte später, er hätte einer Veröffentlichung nicht zugestimmt. Es roch ihm zu sehr "nach Sensation". Die damalige Empörung ist vergleichbar mit dem Skandal, den Georg Baselitz' "pandämonische" Bilder auslösten, als sie 1963 zum ersten Mal in Berlin gezeigt wurden. Zwölf Zeichnungen des 1938 geborenen Baselitz sind diesem kleinen Band beigegeben. Sie illustrieren Benns Gedichte nicht, sie korrespondieren mit ihnen und eröffnen so einen beziehungsreichen Dialog.
Besprochen von Michael Opitz
Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte
mit Zeichnungen von Georg Baselitz
Jubiläumsausgabe zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012
31 Seiten, 10 Euro
Schauplatz von Benns "Morgue"-Gedichten ist der Körper. Der Pathologe, der mit dem Messer den Körper aufschneidet und die Organe freilegt, hält dabei stille Zwiesprache sowohl mit dem Schöpfer als auch mit dem Tod. Während er ins Körperinnere eindringt, macht er Entdeckungen. Im Körper eines jungen Mädchens, der vor ihm auf dem Seziertisch liegt, entdeckt er "unter dem Zwerchfell / [...] ein Nest von jungen Ratten". Die Verstorbenen haben mit dem Tod die letzten Hüllen verloren und sind seinem letzten Blick ausgeliefert.
Angesichts der drastischen Bilder, die Benn findet, kann man sich den damaligen Aufschrei der Empörung gut vorstellen. Die Gedichte seien "pervers" und zynisch hieß es in einer zeitgenössischen Rezension. Noch heute geht von diesen Gedichten etwas Verstörendes aus, denn Benn versteht es, die Kälte des Seziersaals in Sprache zu übertragen. Aber wer ihm Zynismus vorwirft, missversteht ihn gründlich. Zynisch verfährt vielmehr das Leben mit denen, die im Sektionssaal landen und denen kein Glück beschieden war.
Benn konstatiert nur. Nichts findet in diesen Gedichten glücklich zueinander. Es dominiert das Nebeneinander. Kommen im Sektionssaal Mann und Frau auf einem Tisch zu liegen, wie in dem Gedicht "Requiem", dann sind sie zwar einander "nah", aber es bleibt eine folgenlose Liaison, denn der Schädel ist "auf" und "die Brust entzwei. Die Leiber / gebären nun ihr allerletztes Mal."
Als Benns "Morgue"-Gedichte vor hundert Jahren in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen, sorgten sie für Aufsehen. Er selber sagte später, er hätte einer Veröffentlichung nicht zugestimmt. Es roch ihm zu sehr "nach Sensation". Die damalige Empörung ist vergleichbar mit dem Skandal, den Georg Baselitz' "pandämonische" Bilder auslösten, als sie 1963 zum ersten Mal in Berlin gezeigt wurden. Zwölf Zeichnungen des 1938 geborenen Baselitz sind diesem kleinen Band beigegeben. Sie illustrieren Benns Gedichte nicht, sie korrespondieren mit ihnen und eröffnen so einen beziehungsreichen Dialog.
Besprochen von Michael Opitz
Gottfried Benn: Morgue und andere Gedichte
mit Zeichnungen von Georg Baselitz
Jubiläumsausgabe zum 100. Jahrestag der Erstveröffentlichung
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2012
31 Seiten, 10 Euro