Anne Carson: Anthropologie des Wassers
Aus dem amerikanischen Englisch von Marie Luise Knott
Verlag Matthes & Seitz Berlin
Berlin 2014 131 Seiten, 17,90 Euro
Übergänge zum Leuchten bringen
Poetische Reisenotizen und essayistische Reflexionen bietet der Band "Die Anthropologie des Wassers" der kanadischen Dichterin Anne Carson. Den einen ist sie als Lyrikerin zu kryptisch, den anderen nicht lyrisch genug. Unter den englischsprachigen Gegenwartsautorinnen gilt sie als feste Größe.
"Wer schreibt, kann sagen, was nah und fern zugleich ist." Dieser Satz aus der Feder von Anne Carson findet sich in dem jüngst auf Deutsch erschienenen Buch "Decreation". Das Nahe und das Ferne bringt die 1950 in Toronto geborene Lyrikerin, Essayistin, Übersetzerin und Altphilologin, die für ihre inhaltlichen wie formalen Brückenschläge bekannt ist, auch in dem schmalen Band "Anthropologie des Wassers" zusammen. Er gehört zu den frühen Schriften von Anne Carson, die bis heute den Ruf hat, unlesbar zu sein.
Den einen ist sie als Lyrikerin zu kryptisch, den anderen als poeta doctus nicht lyrisch genug. "Anthropologie des Wassers" bietet eine wunderbare Gelegenheit, sich heranzutasten an die Tonalität und die Beweglichkeit ihres Denkens.
Denn nicht Gedichte, sondern drei lyrische Texte findet man vor, die poetische Reisenotizen und essayistische Reflexionen in sich vereinen.
Leben, Reisen und das Verhältnis von Mann und Frau
Der erste handelt von einem Mann und einer Frau, die auf dem Jakobsweg pilgern. Im Mittelpunkt des zweiten steht ein Paar – möglicherweise ist es dasselbe – , das mit dem Auto durch die Rocky Mountains nach Los Angeles reist und sich dort trennen wird. Der dritte Text handelt vom Bruder der Autorin, der früh verstorben ist: ein Lebenskünstler, dem das Element des Fließenden und Unsteten zum Verhängnis wurde.
Leben, Reisen, das Verhältnis von Mann und Frau: Diese Themenkreise klingen schlicht und simpel. Und tatsächlich: Carsons Sprache betört, weil sie von allem Überflüssigen entschlackt ist und sich ganz auf die konkrete Anschauung konzentriert: Wetterleuchten, Regenwasser, der Schnitt mit dem Messer in eine Orange. Manche Sätze und Wendungen ("Geruch von Gras, das am Licht schabt") möchte man sein ganzes Leben nicht vergessen.
Parataxe als Stilmittel
Anne Carson greift oft auf das Stilmittel der Parataxe zurück: Was könnte – darauf weist im Nachwort die Übersetzerin Marie Luise Knott hin, die Anne Carsons Idiomatik in ein so geräumiges wie gelenkiges Deutsch übertragen hat – besser geeignet sein, um das Nahe und das Ferne miteinander zu verbinden, als die Reihung von kurzen Sätzen?
Was diese sprunghaft wirkende Erzählweise dennoch zusammenhält, sind einerseits semantische Wortfelder, die in allen drei Texten auftauchen – vor allem das Wasser in diversen Escheinungsformen. Zugleich ist die Komposition jedes Textes dem japanischen Haibun entlehnt, einer lyrischen Mischform, die subjektives Erleben und konzeptionelle Strenge bei gleichzeitiger formaler Offenheit verlangt.
Der Reiz dieser so luftigen wie oftmals unerwartet witzigen Texte liegt dabei in ihren Resonanzen: Da korrespondieren die Schlagertexte eines Ray Charles mit chinesischen Weisheiten. Die Demenz des Vaters ist ebenso Thema wie das mangelnde Wissen der Männer über das Begehren.
Sprachliche Genauigkeit und humorvoller Blick
Zugleich bringt Anne Carson fließende Übergänge zum Leuchten: die zwischen Reisen und Schreiben (beides Wege der Selbstergründung), die zwischen dem Wasser und dem Lieben (beides kann einen ertränken) und die zwischen der Liebe eines Mannes und einer Frau (beides Liebende, aber getrennt durch die Sprache).
Die Anthropologie, so heißt es am Anfang dieses Bandes, ist die Wissenschaft des Übereinanderstaunens. Anne Carson lehrt uns diese schwierige Kunst, die sprachliche Genauigkeit ebenso benötigt wie den humorvollen Blick für das, was nah und fern, vertraut und fremd zugleich ist. "Anthropologie des Wassers" hat beides in Überfülle.