"Matthew Sweeney verbindet die seltsamsten und schönsten Dinge"
Matthew Sweeney ist tot. Er gehörte zu den bedeutendsten Lyrikern in Irland. Der Dichter Jan Wagner hat einen Teil von Sweeneys Werk ins Deutsche übertragen - und ihn vor allem für seinen "irrwitzigen Humor" geschätzt.
Britta Bürger: Matthew Sweeney gehört zu den bedeutendsten Lyrikern Irlands. Heute wurde bekannt, dass er gestern mit 65 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit gestorben ist.
Der Stil seiner Gedichte ist unverwechselbar, bewegt sich im Grenzgebiet zwischen Vertrautem und Unerhörtem, wofür Sweeney selbst den Begriff des alternativen Realismus gefunden hat.
Für den Verlag Hanser Berlin hat der Dichter Jan Wagner zwei Bände mit ausgewählten Gedichten von Sweeney ins Deutsche übertragen: 2008 "Rosa Milch" und im vergangenen Jahr "Hund und Mond".
Jan Wagner, der selbst für seinen Gedichtband "Regentonnenvariationen" mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet worden ist – ich freue mich, dass er jetzt in "Fazit" am Telefon ist, schönen guten Abend, Herr Wagner!
Jan Wagner: Guten Abend!
Bürger: Was hat Sie an Matthew Sweeneys Gedichten besonders fasziniert?
Wagner: In Sweeney kommen viele verschiedene Dinge zusammen, und er verbindet die seltsamsten und schönsten Dinge in einer Person und in einem Werk – Kafka, Jazz und Beckett, osteuropäische Lyrik wie irische. Er ist ein großer Geschichtenerzähler, der Garn spinnt und die Schnurre nicht scheut und der die kleinsten Dinge und die seltsamsten Begebenheiten aufgreift und in ein Gedicht verwandelt, in Sprache verwandelt, auf den Leser zugeht und sagte: Setz dich hin und hör zu, das hier hast du noch nie gehört und nie erlebt.
Gedichte, die zum Staunen einladen
Das sind Gedichte, die einerseits sehr zugänglich sind und von einem irrwitzigen Humor, auch von schwarzem Humor getragen sind, die aber immer einladen zum Staunen und genau wissen, dass die Welt nicht ist, was sie scheint.
Bürger: Ich hab schon gesagt, er hat seinen Stil selbst gelabelt als alternativen Realismus. Inwieweit unterscheidet der sich denn vom Surrealismus?
Wagner: Das müsste Sweeney natürlich beantworten. Ich würde sagen, dass sie sozusagen nie abkoppeln von der unvertrauten Welt, dass also nie sozusagen wie oft surrealistische Gedichte, auch Bilder in Traumwelten abgleiten, die sozusagen vollkommen losgelöst sind von uns, sondern sie beginnt immer mit dem Vertrauten, mit dem, was wir alle kennen: ein Spaziergang, ein Gebäude.
Es sind oft Traumerscheinungen, und es hat auch oft was Beunruhigendes, aber es sind immer Dinge, die wir alle kennen, und Momente, die wir alle kennen, und Tätigkeiten, die wir alle kennen.
Das Essen taucht oft auf, es tauchen Geister, Köche auf bei Sweeney, es geht um Schatzsuchen, es geht Versicherungsagenten zu Pferd, um einäugige Philosophen von Katmandu oder Ladendiebe im Ruhestand.
Man kann sofort etwas anfangen mit den Gedichten, aber schnell, wie bei dem eben schon zitierten Gedicht mit den Frisörsalons in China, wo plötzlich alle Haare von China auf einen hinabregnen, begibt man sich oder kommt man in eine Welt, die bedrohlich ist und die doch im selben Moment der Bedrohlichkeit zum Lachen reizt.
Das Publikum war immer begeistert von Sweeney
Das Grauen, das Dunkle und der irrwitzige Humor sind immer in ein und derselben Zeit zu finden bei Sweeney, aber eben nie losgelöst von dem, was wir alle kennen. Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum bei Lesungen – ob in Deutschland oder in Irland oder sonst wo, er hat ja in aller Welt gelesen – das Publikum immer begeistert war von ihm und seinen Gedichten, weil man immer etwas findet von sich selbst in seinen Gedichten.
Dazu kommt natürlich, dass er ein Menschenfreund war und zugewandt, also weltzugewandt und menschenzugewandt war, und natürlich immer auch mit skurrilen Anekdoten punkten konnte.
Bürger: Er hatte ja auch einige Jahre in Berlin gelebt, Sie haben ihn auch persönlich kennengelernt?
Wagner: Oh ja, wir kannten uns seit 2004. Ich habe zwei Bände übersetzt, und wir sind oft gereist, haben oft gelesen in Berlin, in Irland und jetzt im März in Cork, wo er bis zum Schluss gelebt hat, bis gestern – das ist eine Stadt in Südirland – waren in Galway und Limerick, haben dort gelesen. Und er hat letztes Jahr mit dem letzten Gedichtbuch, dem deutschen Gedichtband, eine Lesetour durch Deutschland gemacht mit mir zusammen, und das war sehr, sehr schön. Und wie gesagt, er stieß auf viel Begeisterung wegen seiner Vortragskunst und seiner Fähigkeit, Witz und Staunen zu verbinden.
Bürger: Er hat ja nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder geschrieben. Kann man sagen, seine Gedichte kann jeder verstehen?
Wagner: Das Schöne ist, dass er nie wirklich trennen wollte. Er sagte, er hat zwar Kindergedichtbände geschrieben, aber eigentlich sollten seine Gedichte für alle sein – also die Erwachsenengedichte für Kinder wie die Kindergedichte für Erwachsene.
Texte, die allen vertraut sein sollen
Und das ist ungeheuer schöne Art, finde ich, Gedichte zu betrachten, und zu sagen, es sind Texte, die allen vertraut sein müssen, die auch nur ein bisschen Ahnung von Welt haben, egal wie viel Erfahrung sie haben, die also auch Erwachsene einlädt, sofort wieder anzuschließen an das, was sie als Kinder schon kannten, an das Staunen über die Welt, das Wissenwollen und die Neugier beim Wühlen und Betasten.
Bürger: Was war für Sie die Herausforderung beim Übersetzen?
Wagner: Es gibt Gedichte von Sweeney, die ich liebte, die skurrile Formen (haben), die schwer zu übersetzen sind, aber das Wichtigste scheint mir, dass er eine ungeheure Leichtigkeit hatte. Er kommt aus dem Norden Irlands, ist in Donegal geboren, und man dachte immer, dass er an die Tradition des Garnspinnens auch anschließt.
Man kann sich immer vorstellen, dass er seine Gedichte liest zu später Stunde in einem Pub und einfach erzählen möchte. Und dieses Schnurren, Spinnen oder Garnspinnen – mit dieser Leichtigkeit, die das Englische bietet, dieses vermeintlich Saloppe und vermeintlich Dahingeschriebene, mit derselben Leichtigkeit ins Deutsche zu tragen, das ist die Herausforderung, wenn er nicht spielt mit Reimen, was er sehr gut konnte, mit alten Formen, und sich nicht antreiben ließ von schwierigen, formalen Strukturen.
Aber diese Leichtigkeit und den Charme, der sehr gut versteckt, dass die Gedichte natürlich alle sehr genau gearbeitet sind, weil sie wie der Vortrag eines guten Komikers auf die genau platzierte Wendung und die sekundengenaue Pointe setzen, das zu übertragen, war schwierig.
Bürger: Ich fänd's schön, Jan Wagner, wenn wir unser Gespräch jetzt spinnend ausklingen lassen würden mit einem Gedicht von Matthew Sweeney in Ihrer Übersetzung.
Wagner: Das ist ein Gedicht, das im englischen Original "Little Flower" heißt und seiner vor Jahren gestorbenen Schwestern gewidmet war. Im Deutschen heißt das Gedicht "Kleine Blume".
Hinab zum letzten Zipfel Argentiniens
"Kleine Blume, die du am Berghang wächst, den Atlantik betrachtest, ich weiß nicht, was du bist. Ich weiß, du wächst wild, doch lass mich dich wässern mit dieser Flasche, dir erzählen vom klitzekleinen Pferd, das sich entschloss, bis zur Antarktis zu galoppieren, jedwedes Meer zu durchschwimmen, Menschen ignorierte, die aufzuspringen versuchten, vorbei an Kameras und Grenzen, Männern, die es aufhalten wollten, hinab zum letzten langen Zipfel Argentiniens, zur walisisch-, nicht irischsprachigen Tierra del Fuego, wo es ins kalte Wasser sprang, auftauchte, bei den verblüfften Pinguinen des Kontinents aus Eis. Was sagst du dazu, kleine Blume, brauchst du noch Wasser? Sonst irgendwas? Wäre der Ort, wo du wächst, nicht derart perfekt - ich pflückte, trüge dich in meinem Knopfloch, marschierte direkt ins hiesige Himmelskontor."
Bürger: Der irische Dichter Matthew Sweeney ist gestern im Alter von 65 Jahren gestorben. Jan Wagner ist sein Übersetzer und selbst ein wunderbarer Lyriker. Herzlichen Dank für das Gespräch!
Wagner: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.