Schriftsteller Jürgen Becker

Texte mit Ein- und Ausstiegsluke

28:47 Minuten
Der Schriftsteller Jürgen Becker in Köln, 2017.
Zwei Orte prägten das Leben von Jürgen Becker: Odenthal im Bergischen Land und Köln. © picture alliance/dpa/Horst Galuschka
Von Nadja Küchenmeister |
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Der Kölner Schriftsteller Jürgen Becker wird 90 Jahre alt. In den Gedichten, in denen er dem eigenen Leben nachspürt, hat alles Platz. Denn: Wo das Eigene verhandelt wird, trifft man immer auch das Andere.
„Ich kann nicht sagen, dass es mir beim Schreiben überhaupt um etwas geht, dass ich mit bestimmten Absichten schreiben würde“, sagt Jürgen Becker.
Es gehe nur darum, einen Text zu schreiben, in dem er sich selbst wiederfinde. In dem er seine Fragen nicht beantworten, aber erst mal stellen könne: „Und das könnte vielleicht einem, der sich damit beschäftigt, ähnlich gehen. Und wenn das der Fall ist, dann denke ich: Ach, dann hat so ein kleines Gedicht vielleicht sogar seinen Sinn.“

Schreiben als Lebenspraxis

Die Schriftstellerin Ursula Krechel, Matthias Kniep, Herausgeber der Anthologie "Jahrbuch der Lyrik" und verantwortlich für das Programm im "Haus für Poesie" in Berlin, und der Schriftsteller Marcel Beyer beschäftigen sich seit Jahren mit Beckers Werk.
Ursula Krechel sagt: „Die Texte von Jürgen Becker sind ja nicht aus einem Tagebuch genommen, sondern sie sind ein dauerndes Begleiten und Reflektieren. Vielleicht ist wirklich das Schreiben selbst – jour à jour – eine Lebenspraxis, die keine Umwandlung mehr braucht.“
Becker findet: „Wenn ich ein Gedicht geschrieben habe, frage ich mich: Weiß ich denn nun mehr? Und ich muss oft sagen: Ach, eigentlich weiß ich nicht viel mehr. Im Moment habe ich mir ein Licht angezündet oder hat die Taschenlampe jetzt so mal ins Dunkel hineingeleuchtet, aber grundsätzlich ändert sich da nichts."

Freundliche Gier gegenüber der Welt

„Becker geht immer aus von den täglichen Routinen“, meint Matthias Kniep: „Was macht man? Was muss man im Garten machen? Muss man wieder zum Friseur gehen? Das ist der Ausgangspunkt für die Erinnerungen, die zurückkehren. Man erinnert sich ja an das Besondere aus einer Alltäglichkeit heraus. Es ist niemals umgekehrt.“
Die Vergangenheit sei ihm nicht ständig präsent, sagt Becker. Aber: „Beim Schreiben merke ich, wie Erinnerung entsteht, wie Erinnerung sich herstellt.“
„Diese freundliche Gier, sich der Welt zuzuwenden und der Sprache zuzuwenden und die Welt nicht zu hierarchisieren – alles, alles kann produktiv werden –, diese Gier hat sich über die Jahrzehnte nicht nur als der Auslöser, sondern gewissermaßen als der Motor des Schreibens erwiesen“, meint Schriftstellerkollege Marcel Beyer.

Bomberverbände wie silberne Fische

Köln-Brück, Anfang März 2022. Der Weg zum Schriftsteller Jürgen Becker führt über den Rhein. Fast ländlich wirkt diese Gegend, ruhig. Man folgt den Wegbeschreibungen des Dichters. Die Straße, die zu seinem Haus führt, steigt leicht an.
Er höre jetzt wieder ständig Radio, sagt Jürgen Becker und zündet sich eine Zigarette an. Vor wenigen Tagen hat Russland die Ukraine überfallen. Die Tür zum Garten steht offen, Wind weht ins Zimmer, ein Hauch Frühling. Jürgen Becker wurde in Köln geboren. 1939, da war er sieben Jahre alt, zog die Familie nach Erfurt.
Er erinnert sich: „Ein strahlend blauer Himmel, dann sehe ich den Himmel über Erfurt, durch den die amerikanischen Bomberverbände zogen Richtung Mitteldeutschland, Leuna, und in großer Höhe diese kleinen silbernen Fische, lange weiße Kondensstreifen hinter sich herziehend, und der ganze Himmel war plötzlich bewölkt von diesen Kondensstreifen, also dieser Kondensstreifen-Himmel, der ständig bei mir vorkommt.“
„Wenn Jürgen Becker über einen Krieg schreibt, der jetzt in der Gegenwart stattfindet“, sagt Marcel Beyer, dann seien neben der Erinnerung an die eigene Kindheit in der Kriegszeit auch die Ängste des Kindes immer da: „Es ist nicht wichtig, noch mal einen alten sowjetischen Panzer zu zeigen oder einen alten amerikanischen Panzer, darum geht es überhaupt nicht, sondern es geht um das, was man in ganz junger Zeit – wo man nicht wehrhaft war, aber Angriffen ausgesetzt –, dass man das wieder in sich auftauchen sieht.“

"Die Straßenbahn fährt noch ... so erzählt es
das Bild, und die Schatten dokumentieren, von irgendwo
kommt Sonne her.

Es sind keine Schatten; es sind
im dünnen Schnee leergebrannte Flächen.

Der Wind kommt
von Osten; er schiebt die Planwagen vor sich her, draußen
auf der klirrenden Chaussee. Die Deichseln knarren;
der Eisklumpen Milch im schaukelnden Eimer.

Die Straßenbahn
steht; sie wartet, und die Kämpfe gehen weiter
hinter der Endstation."

Auszug aus Jürgen Beckers "Winterbild 45" aus dem Gedichtband "Dorfrand mit Tankstelle", 2007

Augenblicke verwandelt in Literatur                  

Jürgen Becker zündet sich die nächste Zigarette an. Das letzte Mal habe er vor zwanzig Jahren versucht, mit dem Rauchen aufzuhören. Zeit. Sie ist greifbar in diesem Haus, in dem am Nachmittag schon die Lampen leuchten.
Sie strömt einem entgegen aus den Büchern und den Bildern an den Wänden, und das passt zu einem Dichter, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Jahrzehnte, die er durchschreitet, mit ihren historischen Verwerfungen, den sich verändernden Landschaften, den privaten Winkeln, Stimmen und Stimmungen in seinen Gedichten festzuhalten. Es geht um Augenblicke, die in ihrer Gesamtheit das Leben ausmachen, verwandelt in Literatur.
Matthias Kniep sagt dazu: „Becker geht immer vom Gesehenen aus, deshalb gibt es auch so viele Bildbeschreibungen in seinen Texten. Postkarten werden beschrieben, Gemälde, die er mag. Es gibt für mich fast nur konkrete Dinge in seinen Texten, er wird selten abstrakt.“
Zu bildenden Künstlern hat Becker immer eine große Nähe empfunden. „Böse Zungen haben behauptet, ich hätte die Rango Bohne nur geheiratet, weil sie eine Malerin wäre, weil ich endlich täglich diesen Geruch um mich habe wollte“, erzählt er.
Mit der Malerin Rango Bohne war Jürgen Becker 56 Jahre verheiratet. Gemeinsame Bücher entstanden. Jürgen Becker sagt, er habe immer auf die Bilder seiner Frau reagiert, nie sei es umgekehrt gewesen. Rango Bohne starb im September 2021.

Radio lässt Bilder im Kopf entstehen

In den 1950er-Jahren kehrte Jürgen Becker nach Köln zurück und studierte Theaterwissenschaften, Germanistik und Kunstgeschichte. Er brach das Studium ab, war Mitarbeiter des Westdeutschen Rundfunks und Lektor im Rowohlt Verlag. Zwei Orte prägten fortan Leben und Schreiben des Dichters: Odenthal im Bergischen Land und Köln.
Dort lernte Ursula Krechel den Dichter in den 1970er-Jahren kennen, wie sie erzählt: „Köln war ein enorm lebendiger Ort. Köln war der Zusammenhang der verschiedenen Künste. Die Literatur hat mit der großen Schattengestalt Böll gar nicht eine so große Rolle gespielt, sondern die bildende Kunst war so wichtig, der Rundfunk, Deutschlandfunk und WDR, und da die Stadt ja doch relativ eng ist, mischte sich das alles –  der Zuzug von Experimentalfilm, von den Verlagen – das machte eine höchst lebendige Situation.“ Seit Anfang der 1970er und bis in die frühen 1990er-Jahre leitete Jürgen Becker die Hörspielabteilung im Deutschlandfunk.
Matthias Kniep sagt: „Ich glaube, Radio ist deshalb für Becker so wichtig, weil das Radio dazu beiträgt, dass im Kopf der Hörerinnen die Bilder entstehen. Die Bilder werden nicht mitgeliefert. Das ist vielleicht ein bisschen seltsam, weil er als Dichter immer ausgeht vom gesehenen Bild, das dann zum Wort kommt, und das Radio kommt vom Wort zum gesehenen Bild. Trotzdem scheint diese Umkehrung in diesem Fall für Becker perfekt zu sein.“

Der unverwechselbare Becker-Sound

1971 erschien Jürgen Beckers erster Gedichtband "Schnee". Zuvor hatte es schon drei Prosabände gegeben sowie Hörspiele und Künstlerbücher. Sein Ton hat sich im Laufe der Zeit verändert, aber der Becker-Sound ist geblieben.
Matthias Kniep sagt: „Für mich entfaltet der Becker-Sound dann seine ganze Wirkung, wenn ein Gedicht mindestens drei Seiten oder länger ist. Dann kommt dieses sanfte Desorientiertsein, was man als Leser oder Leserin spürt, wenn man diese Texte liest. Das ist ein Gefühl, das für mich überhaupt nicht unangenehm ist, weil es mich eher einlädt, aus dem Text ein- oder auszusteigen, wie ich will. Als hätte jeder Text eine Einstiegs- und Ausstiegsluke.“
Und Marcel Beyer ergänzt: „Da hat er wirklich eine Form des Schreibens gefunden, in der alles lebendig bleibt, weil es im Fluss bleibt, und selbst wenn dieselben Momente in der Landschaft, was Alltagsgegenstände angeht oder Interieurs, wenn die immer wieder angesteuert werden, sind sie trotzdem nicht Museumsräume.“

Wer spricht hier eigentlich?

Die Gedichte von Jürgen Becker, diesem poetischen Chronisten, sind voller Alltagsdinge, Wetterereignisse und Wiederholungen. Auch sie tragen zum unverwechselbaren, lakonischen Becker-Sound bei. Nur, wer spricht hier eigentlich?
Matthias Kniep sagt: „Es ist, wenn Jürgen Becker Ich sagt, wirklich Jürgen Becker. Wenn er von seinem Vater spricht, meint er seinen Vater.“ Ursula Krechel meint: „Mir scheint es – weil es in vielen Gedichten ja gar kein Ich gibt –, als würde die Funktion des Sammelns, des Kombinierens gerade eine Reflexion des Autors unbedingt notwendig machen.“
Noch einmal Matthias Kniep: „Wenn er vom Ich zum Man wechselt, dann wird oft etwas ausgesprochen, was wir alle in ähnlicher Situation auch sagen könnten.“
"Und dann, so Marcel Beyer, “kommt so ein dialogisches Moment, nämlich irgendeine Rückfrage vielleicht, und man fragt sich: Hm, wer hat jetzt eigentlich gesprochen?“ Matthias Kniep ergänzt: „Und dieser Wechsel vom Ich zum Man zum Du zum Wir passiert, glaube ich, sehr instinktiv bei Jürgen Becker. Seine ganze Poetik liegt darin begründet.“

Erinnerung als zentrales Thema

Soeben sind die "Gesammelten Gedichte" von Jürgen Becker im Suhrkamp Verlag erschienen, herausgegeben von der Schriftstellerin Marion Poschmann. Becker hat überdies mehrere Prosabücher geschrieben und den Roman "Aus der Geschichte der Trennungen", in dem der Schriftsteller seiner Kindheit nachspürt, dem frühen Tod der Mutter, dem eigenen Leben zwischen den beiden Ländern, die nun wieder ein Land sind. Auch für die Arbeit an diesem Buch war Erinnerung das zentrale Thema.
„Zeitlebens ist geblieben ein Rest“, heißt es in Jürgen Beckers jüngstem Gedichtband "Die Rückkehr der Gewohnheiten".
Er sagt: „Also, ich lebe einerseits sehr augenblicklich, so in den Tag hinein und weiß doch, dass dieser Tag, heute, viele Tage vor sich hat, die wir alle kennen, Sie und ich kennen die, und in dieser Art von Gleichzeitigkeit, da können wir uns dann begegnen, dann verschwinden Altersunterschiede, dann müssen Sie nicht die konkrete Erfahrung haben, die ich habe, aber sie bekommen eine Nachricht aus dieser Zeit, und die korrespondiert mit Ihren Erfahrungen, die Sie jetzt machen. Das, glaube ich, ist etwas, das Literatur sehr schön vermitteln kann, dieses Bewusstsein von Teilhabe an Zeiten, die man selber nicht kennt, aber von denen man weiß, dass sie noch anwesend sind.“
(DW)

Mitwirkende: Nina Weniger und Robert Levin
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Jan Pasemann
Redaktion: Dorothea Westphal

Jürgen Becker: "Die Rückkehr der Gewohnheiten. Journalgedichte", Suhrkamp 2022, 76 S., 20 €

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