Einsatz für eine Gesellschaft der radikalen Vielfalt
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Ein Leitkulturkonzept verfehlt die gesellschaftliche Realität: Das sollen die "Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur" zeigen, erklärt deren Kurator Max Czollek. Kunst und Zivilgesellschaft seien schon viel weiter als die Politik, sagt der Lyriker.
Liane von Billerbeck: 30 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung, 20 Jahre nach der Debatte über die deutsche Leitkultur und zehn Jahre seit Erscheinen von Sarrazins Kampfschrift beginnen heute die "Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur" – digital und weltweit. Max Czollek ist deren Kurator, zudem Lyriker und Mitherausgeber der Zeitschrift "Jalta".
Sie sind der Debatten um die deutsche Leitkultur müde. Hilft es da, eine neue Leitkultur auszurufen, sei es eine jüdisch-muslimische, queer-linksextreme, kurdisch-intellektuelle, atheistisch-tscherkessische oder sonst eine Leitkultur?
Max Czollek: Ich würde mal behaupten, die jüdisch-muslimische Leitkultur ist viel besser als die deutsche Leitkultur. Es stellt sich raus, unter dem Humboldt-Forum wurde das Rothschild-Forum entdeckt und Berlin wurde nicht auf Eichenpfählen, sondern auf Dönerspießen errichtet. Ist das nicht eine schönere Erzählung, als diese Siegessäule mit den Kanonen dran?
"Es geht darum, Raum freizumachen"
von Billerbeck: Klingt so. "Zentrales Anliegen ist die Suche nach einer neuen Erzählung für die plurale und postmigrantische deutsche Gegenwart", so steht’s bei Ihnen. Aber es ist nicht nur der Charme der Pluralität, dass es so viele verschiedene Erzählungen gibt.
Die Geschichten von jüdischen Kontingentflüchtlingen aus der Sowjetunion sind möglicherweise ganz andere als die der Kinder von Arbeitsmigranten, die aus der Türkei in den 70er-Jahren nach Deutschland gekommen sind. Wo sind da die Parallelen?
Czollek: Jetzt kommen wir zum ernsteren Teil dieses Konzeptes: Es geht darum, Raum für die Erzählung dieser Unterschiedlichkeiten freizumachen, für die Erzählung, die zu einer pluralen Demokratie passt.
Konzepte wie Leitkultur und Integration entsprechen schlichtweg nicht mehr der gesellschaftlichen Realität, in der wir heute leben. Kunst, Kultur und Zivilgesellschaft sind schon deutlich weiter, als es die politischen Konzepte sind. Das wollen wir in diesem Monat der "Tage der Jüdisch-Muslimischen Leitkultur" im ganzen deutschsprachigen Raum sichtbar machen.
von Billerbeck: Da geht es auch darum, verbündet zu handeln. Da fragt man sich natürlich, wie das passieren soll. Was macht Sie so sicher, dass Anliegen von Feministinnen, LGBT-Aktivistinnen und Jüdinnen und Musliminnen wirklich die gleichen sind?
Czollek: Ich habe das in den letzten Jahren erlebt, ich nenne es die postmigrantisch-jüdische Kontaktzone Maxim-Gorki-Theater Berlin. Diese Art von Zusammenarbeit ist Realität und man muss tatsächlich auch davon erzählen, natürlich auch mit einem guten Teil Optimismus.
Das könnte auch eine Vision für einen größeren Gesellschaftsteil sein. Man könnte sagen: Guck mal, Juden, Muslime, die sind nicht gegeneinander gestellt. Das ist kein Zufall, dass wir gerade die jüdische und die muslimische Seite als polemische Setzung auswählen, sondern die gehören fundamental zusammen.
Wenn die Anschläge von Halle und Hanau eins gezeigt haben, dann, dass es für Juden und Muslime nur zusammmen eine Zukunft geben wird - oder eben keine für beide.
"Aus der Bubble in die Charts"
von Billerbeck: Ihre Veranstaltungen finden vom 3. Oktober bis zum 9. November statt, zwei symbolträchtige Daten der deutschen Geschichte. Was macht Ihnen Hoffnung, dass Sie mit diesen Debatten nicht nur diejenigen erreichen, die sowieso schon mit postmigrantischen Diskursen vertraut sind, dass sie nicht eben nur das Gorki-Theater-Publikum ansprechen?
Czollek: Wir haben aus Gründen einen dezentralen Kongress mit 30 Veranstaltungen in zwölf Städten und mehr als 80 Künstler*innen organisiert, gerade weil dafür der Slogan ist "aus der Bubble in die Charts". Wir haben alle großen Theater mit an Bord: von Hamburg Kampnagel bis Burgtheater Wien.
Das ist die Idee: breiter aufgestellt zu sein. Wenn man sagen will, nun gut, das Theater erreicht immer nur bestimmte Leute, würde ich sagen, ja, aber immerhin erreichen wir das ganze Theater. Das ist der Ansatz.
Wir haben eine starke Social-Media-Präsenz, wir haben mit Moritz Richard Schmidt einen grandiosen Trailer gemacht, die "Jews News Today", in der diese Geschichte des Rothschild-Forums und der Dönerspieße erzählt wird, die ich eingangs erwähnt habe.
"Hip-Hop ist das Sprachrohr sozialer Unterschichten"
von Billerbeck: Ich will noch mal dranbleiben an der Frage nach den Gemeinsamkeiten. Im Rahmen Ihrer Leitkulturtage treten jüdische Künstlerinnen, Intellektuelle, People of Colour und Transaktivistinnen auf. Was aber fehlt – und das ist auffällig, jedenfalls aus meiner Sicht –, sind die Stimmen von sozial Benachteiligten. Ist die Debatte über Identitäten und Diskriminierung blind für Klassenfragen?
Czollek: Ich will jetzt niemanden von den Leuten markieren, die bei uns mitmachen. Aber ich kann Ihnen versichern, da sind auch Leute mit dabei, die ihre Jugend am Bahnhof verbracht haben. Die sind ganz prominent mit dabei.
Ich glaube, man sollte auch ein bisschen überlegen – das ist eine ähnliche Frage wie die nach der Bubble und, ob man nur die Leute erreicht, die schon überzeugt sind –, welche Fantasien man über die intellektuellen Fähigkeiten der sogenannten sozial Benachteiligten oder Unterschichten hat.
Ich wäre da vorsichtig, weil das wird fast tautologisch zu sagen: Die sozial Benachteiligten können nicht sprechen, weil sie nicht sprechen können, sprechen sie nicht. Hip-Hop ist das Sprachrohr sozialer Unterschichten und mittlerweile auch ein sehr prominentes, sehr erfolgreiches Sprachrohr in der Popmusik.
Aber natürlich sprechen Sie einen wichtigen Punkt an. Ich glaube, das ist ein Punkt, wo die politischen Konzepte nachkommen müssen. Das ist wie die Migrantisierung von ganzen Bevölkerungsgruppen und Unterschicht – und diesen Zusammenhang zu thematisieren und dafür Konzepte bereitzustellen.
"Wir sind heute schon an einem anderen Punkt"
von Billerbeck: Was erhoffen Sie sich, was soll anders sein, nachdem es die jüdisch-muslimischen Leitkulturtage gegeben hat?
Czollek: Wie bei jeder guten künstlerischen Intervention in den öffentlichen Raum hat der verloren, der als Erstes "Aua!" schreit. Unser Ziel ist es, eine Diskussion anzustoßen und mit Chuzpe reinzugehen, um zu sagen: Wir sind doch eigentlich schon ganz woanders, es gibt doch schon großartige Kunst, die andere Perspektiven einnimmt, und über diese Perspektiven auch nicht nur klarzumachen, es geht hier um eine konkrete Utopie, sondern wir sind heute schon an einem anderen Punkt. Es macht Sinn, an diesen Punkt anzuknüpfen im Sinne einer Gesellschaft der radikalen Vielfalt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.