"der neueste frosch
ist der kleinste frosch
kaum größer als ein reiskorn
in deinem mund"
Poesie über den Minifrosch
29:43 Minuten
Ein geheimnisvoller Stachelrochen, ein Kugelfisch, ein Minifrosch oder Köcherfliegen. Lange wussten die Menschen nichts von diesen Tierarten. Mit welchem Blick begegnen Lyriker dem Neuen in der Welt, mit welchem Interesse tun es Wissenschaftler?
Minifrösche auf Madagaskar; Kugelfische, die sich bei der Paarung in die Backe beißen; und Insekten, deren Junge aus einem Unterwasserkokon schlüpfen. Diesen Tieren ist eines gemein: Forscherinnen und Forscher sind erst in jüngster Zeit auf sie gestoßen und haben sie wissenschaftlich untersucht.
Jährlich werden etwa 20.000 neue Arten entdeckt und beschrieben. Die Wissenschaft kommt nicht nach mit der Klassifizierung und muss eine Auswahl treffen. Diese Auswahl richtet sich zum einen nach den Kriterien des Naturschutzes, weil manche der jüngst entdeckten Arten bereits vom Aussterben bedroht sind, aber auch nach zweckrationalen Aspekten: Welche Tiere können dem Menschen nützlich sein?
Lyrikerinnen und Lyriker beschäftigen sich ebenfalls, jedoch in einer ganz anderen Weise, mit diesen neu entdeckten Wesen. Sie haben Texte eigens für die Sendung geschrieben und fragen, mit welchem Blick wir Menschen dem Neuen in der Welt überhaupt begegnen können. Welche anderen Möglichkeiten der Kommunikation, welche anderen Beziehungen zwischen Mensch und Tier sind vorstellbar oder fordern gar dazu auf, erprobt zu werden?
Ein Minifrösche-Paar
Mini Mum und Mini Scule heißen die erst kürzlich entdeckten Zwergfrösche aus Madagasker. Als Pärchen sind sie so groß wie ein Daumennagel. Sie haben die Lyrikerin Eva Maria Leuenberger inspiriert.
Gefunden wurden die winzigen Frösche von Mark Scherz, Amphibienexperte an der Zoologischen Staatssammlung München, und seinem Team. Den Wissenschaftler fasziniert es, wie seine Forschung bedichtet wird, welche Bilder der Dichterin eingefallen sind. Tatsächlich sei der Frosch kaum größer als ein Reiskorn, sagt Scherz.
Lyrische Bilder statt nüchterner Klassifizierung
Eva Maria Leuenberger legt dem Leser gewissermaßen einen Zwergfrosch in den Mund. Ein großartiges sinnliches Experiment, das die Grenzen der Vorstellungskraft auslotet und dieses kleine Wesen in ganz anderer Weise würdigt, als es die Wissenschaft je könnte.
Zwar werden jährlich etwa 20.000 neue Arten entdeckt und beschrieben. Viele Lebewesen verschwinden andererseits von diesem Planeten, bevor die Wissenschaft sie einordnen konnte. Der Evolutionsbiologe Thomas von Rintelen vermutet, das es 10 bis 30 Millionen Arten auf der Erde gibt, von denen erst zwei Millionen klassifiziert seien. Die offiziellen Namen und Bezeichnungen für neue Arten klingen dabei oftmals nüchtern und einschränkend.
Ein Gedicht für den Kugelfisch
Auch Sandra Burkhardt hat sich poetisch mit der Rolle der Sprache bei der Klassifizierungsfrage beschäftigt. So schreibt sie über den Kugelfisch Torquigener Albomaculosus und sinniert in ihrem Gedicht über seinen Namen.
"Klaus? Adam? Dr. Matsuura, bist dus?
Wir sind die makelblanken Namenlosen, unser Stammbaum ist lang.
(...) Am siebten Tag war das Werk geschaffen und signiert,
aber entziffert hats keiner. Du kannst doch lesen, oder?"
Sandra Burkhardt möchte die Wissenschaftler allerdings nicht nur als "böse Klassifizierungsmaschinen" stehen lassen. Schließlich helfen sie ja auch, die Tiere zu schützen, indem sie ihre ökologische Bedeutung erforschen.
Der jagende Mensch und die Antilope
Auf der anderen Seite stehen zum Beispiel Menschen, die vom Aussterben bedrohte Tiere jagen, um sie etwa als sogenanntes Bushmeat, also Buschfleisch, zu verkaufen: die westafrikanische Antilope Philantomba Walteri wird etwa deshalb gejagt. Die Lyrikerin Sabine Scho hat ihr ein Gedicht gewidmet:
"Philantomba Walteri
Kleinere Antilope
auf einem Fleischmarkt
entdeckt
Hört auf den Namen Walter
Hört auf den Namen Duiker
Bilton oder Bushmeat?
Meet the taxidermist!
Sich danach die Finger
geleckt."
Diese kleine Antilope wurde erst 2010 zu einer eigenen Art erklärt.
Die Erforschung der Arten wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch zahlreiche neue technische Möglichkeiten erweitert: Institute wie die Zoologische Staatssammlung München analysieren Gene, erstellen in Computertomographen die dreidimensionalen Skelettaufnahmen von Tieren und speichern in Soundarchiven das Zwitschern, Quaken und Pfeifen verschiedenster Tierarten.
Doch zunächst müssen die Tiere nach wie vor auf ganz analoge Weise gefunden werden. So beschreibt der Lyriker Jan Wagner in seinem Gedicht "potamotrygon rex", wie Forscher das Exemplar eines bis dahin unbekannten Süßwasserstechrochens aus einem Flussbett bergen. Er vergleicht das Tier mit der Himmelsscheibe von Nebra.
Ein Rochen wie die Himmelsscheibe von Nebra
"(...) erstmals ans licht gehievt zum gewaltigen gähnen
vom regenwald: aus der gattung der stachelrochen
dein platter körper, braun oder purpurn,
beschlagen mit punkten von gold, mit tupfern, spänen,
und jetzt an bord von jacques und john und jorge
umringt wie der rundschild eines barbaren (...)"
Wie wir dem Neuen begegnen können, ist eine Frage die Lyrikerinnen und Lyriker ebenso wie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gleichermaßen beschäftigt. Neu entdeckte Tierarten können ihnen dabei auch schlicht die Erfahrung schenken, zu staunen und sich überwältigen zu lassen.
Das Manuskript zur Sendung finden Sie hier.