Eine Produktion von DS Kultur 1993.
Ein ganzes Jahrzehnt in einem Gedicht
54:06 Minuten
Ein oder zwei Gedichte repräsentieren ein ganzes Jahrzehnt – es gibt sicher kleinmütigere Versuche, der Lyrik Aufmerksamkeit zu verschaffen. Karl Mickel, Adolf Endler und Stephan Hermlin versuchten es 1993 im DDR-Ambiente der Villa von Otto Grotewohl.
Draußen liegt der parkähnliche Garten mit Skulpturen im Dunkel, drinnen, in der ehemaligen Residenz von Ministerpräsident Otto Grotewohl am Majakowskiring in Berlin-Pankow, räkeln sich die Zuhörer zurecht auf den durchgesessenen flachen Sitzmöbeln. Der Abend ist der Lyrik gewidmet, drei bekannte und höchst selten gemeinsam auftretende Dichter sollen Gedichte für jeweils eines der letzten Jahrzehnte finden.
Radikalchic der DDR-Moderne
Die einstige Residenz des Ministerpräsidenten, nach 1980 Clubhaus des DDR-Schriftstellerverbands, ist 1991 von der Literaturwerkstatt (heute: Haus für Poesie) übernommen worden. Die Einrichtung bleibt unverändert und nimmt die Retrowelle der kommenden Jahre vorweg. Doch der Radikalchic der DDR-Moderne, gebändigt durch viele Brauntöne, beherbergt nun jene Künstler, die die DDR zensiert, mundtot gemacht oder ausgewiesen hatte – Hermann Kant wird nie eingeladen, und Christa Wolf betrat die Villa erstmals 1991.
An diesem Januarabend im Jahr 1993 sitzen drei Dichter und Intellektuelle sehr unterschiedlicher Provenienz im riesigen Wohnzimmerambiente: der scharfsinnige Intellektuelle und Lyriker Karl Mickel, die lyrische Urgewalt Adolf Endler und der formstrenge, oft als "spätbürgerlicher Dichter" titulierte Stephan Hermlin. Alle drei sind inzwischen tot, aber ihr Gespräch über "Das deutsche Gedicht in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts" ist hörenswert.
Der gesellige Hexameter
Mickel verteidigt den Hexameter, selbst mit ihm könne man "gesellig umgehen". Endler entzückt ein "durchaus befremdliches" Gedicht von Hermlin, und der erzählt, dass er zwar "Der Tod des Dichters" dem Dichterkollegen und problematischen Kulturpolitiker Johannes R. Becher gewidmet habe. Das Gedicht sei aber nicht als Nachruf entstanden und einige Zeit nicht veröffentlicht worden, aus DDR-typischen Gründen. Und Gründen, die typisch sind für das Dezennium.
Natürlich erscheint der Anspruch, mit Gedichten den Zeitgeist von Jahrzehnten einzufangen, allen Teilnehmern der Diskussion in der Villa hybrid. Doch die Erklärungen, warum das Unterfangen scheitern notwendig muss, rufen mühelos die höchst individuellen Erlebnisse und Bewertungen der Jahrzehnte herauf.