Lyrische Grüße aus Russland
In "Als Gruß zu lesen" hat Felix Phillip Ingold 130 Poeten aus 200 Jahren russischer Lyrikgeschichte versammelt. Dabei gilt eine Regel: egal, wie bekannt er ist, jeder Dichter wird mit einem Gedicht vorgestellt. Kurios: Auch Rainer Maria Rilke findet sich im Band.
Alexander Puschkin beschreibt in seinem Gedicht "Prophet" den Dichter als erhabenen Einzelgänger fernab der Menge: sich selbst der höchste Richter, erfüllt er seine prophetische Mission im göttlichen Auftrag. Spätestens seit dem "Goldenen Zeitalter" der russischen Poesie im frühen 19. Jahrhundert wird dem Dichter immer wieder die Rolle des Erlösers und der moralischen Instanz zugewiesen. Diese traditionelle Überhöhung deutet an, warum Gedichte und ihre Verfasser in der russischen Gesellschaft bis heute hohe Verehrung genießen.
Aber trotz aller Relevanz ist Russlands Lyrik im Vergleich zur Bekanntheit der Prosa des Landes bei uns immer noch weitgehend terra incognita. Das liegt einerseits an der enormen Schwierigkeit, den Rhythmus und die Sprachmelodie des russischen Verses auch nur annähernd ins Deutsche zu übertragen. Zum anderen wird der Reichtum russischer Dichtkunst im Ausland tendenziell nur durch einige wenige Dichter repräsentiert. Iosif Brodskij ist dafür ein gutes Beispiel. Er gehört zu den Auserwählten, die, so Ingold, international mit "nachhaltigem Ruhm imprägniert sind", damit aber oft neue Entdeckungen in den Schatten stellen. Brodskijs Werk-Edition ist bislang in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden, während die Gedichte eines vergleichbaren Dichters wie Ilja Kutik (Jahrgang 1960) kaum Resonanz auslösen.
Felix Philipp Ingolds Anthologie erweitert den Fokus rigoros durch einen basisdemokratischen Ansatz: Jeder der hier versammelten Dichter wird - unabhängig von Bekanntheit und Umfang seines Werks - mit genau einem Gedicht vorgestellt. Bei rund 130 Stimmen aus 200 Jahren russischer Lyrikgeschichte entsteht so ein umfassender, schillernder Querschnitt, wobei auf manch kanonisierten Namen wie etwa Jewgenij Jewtuschenko zugunsten von unbekannteren Dichtern verzichtet wird.
Nicht alles überzeugt an dieser betont subjektiven Auswahl: Zumindest kurios ist die Berücksichtung von Rainer Maria Rilke, der hier mit einem auf Russisch verfassten Gedicht vertreten ist oder auch ein alogischer Text des Malers Kasimir Malewitsch. Insgesamt aber liefert die unkonventionelle "Blütenlese" (das griechische Wort für Anthologie) einen beeindruckenden Strauß sowohl aus Orchideen als auch zarten Feldblumen.
Besonders produktiv ist die Lyrik-Produktion im sogenannten "Silbernen Zeitalter" der 10er- und 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als neben berühmten Vertretern von Symbolismus, Akmeismus, Futurismus oder der Oberiuten auch Einzelfiguren auf den Plan treten. Den Namen Sinaida Gippius hat der ein oder andere hierzulande schon im Zusammenhang mit der St. Petersburger Salonkultur gehört. Wegbereiterinnen aber der lesbischen Lyrik wie Poliksena Solowjewa, Sofija Parnok oder Tscherubina der Gabariak sind selbst in Russland nicht allzu vielen vertraut. Ähnliches gilt für die Dichter der sogenannten "Pariser Note", Emigranten in Frankreich wie Georgij Adamowitsch, Anatolij Steiger oder Nikolaj Ozup oder Wortführer der patriarchalen bäuerlichen Lyrik wie Nikolaj Klujew, die sich gegen die Forschrittsideologie der jungen Sowjetunion aussprechen.
Die Anthologie bedient sich einer umgekehrten Chronologie: Sie beginnt mit einem Gedicht aus dem Jahr 2000 von Boris Ryshij und endet mit einem Gedicht Konstantin Batjuschkows von 1817, was dem Leser eine allmähliche Annäherung an sich entfernende Zeitläufe und den Wandel von Themen ermöglicht. Statt eines Nachworts findet man einen Klassiker-Text der slavischen Literaturwissenschaft: Roman Jakobsons "Anmerkungen zu den Wegen der russischen Poesie". Ein ausführlicher Apparat mit Hinweisen zu Leben und Werk vertieft den kurzen Gruß der einzelnen Dichter. Und dieser Gruß kommt erfreulicherweise zweisprachig daher: links das russische Original, rechts die sensiblen Übertragungen von Felix Philipp Ingold.
Besprochen von Olga Hochweis
Felix Philipp Ingold (Hg.):Als Gruß zu lesen
Russische Lyrik von 2000 bis 1800
Dörlemann, Zürich 2012
400 Seiten, 35 Euro
Aber trotz aller Relevanz ist Russlands Lyrik im Vergleich zur Bekanntheit der Prosa des Landes bei uns immer noch weitgehend terra incognita. Das liegt einerseits an der enormen Schwierigkeit, den Rhythmus und die Sprachmelodie des russischen Verses auch nur annähernd ins Deutsche zu übertragen. Zum anderen wird der Reichtum russischer Dichtkunst im Ausland tendenziell nur durch einige wenige Dichter repräsentiert. Iosif Brodskij ist dafür ein gutes Beispiel. Er gehört zu den Auserwählten, die, so Ingold, international mit "nachhaltigem Ruhm imprägniert sind", damit aber oft neue Entdeckungen in den Schatten stellen. Brodskijs Werk-Edition ist bislang in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden, während die Gedichte eines vergleichbaren Dichters wie Ilja Kutik (Jahrgang 1960) kaum Resonanz auslösen.
Felix Philipp Ingolds Anthologie erweitert den Fokus rigoros durch einen basisdemokratischen Ansatz: Jeder der hier versammelten Dichter wird - unabhängig von Bekanntheit und Umfang seines Werks - mit genau einem Gedicht vorgestellt. Bei rund 130 Stimmen aus 200 Jahren russischer Lyrikgeschichte entsteht so ein umfassender, schillernder Querschnitt, wobei auf manch kanonisierten Namen wie etwa Jewgenij Jewtuschenko zugunsten von unbekannteren Dichtern verzichtet wird.
Nicht alles überzeugt an dieser betont subjektiven Auswahl: Zumindest kurios ist die Berücksichtung von Rainer Maria Rilke, der hier mit einem auf Russisch verfassten Gedicht vertreten ist oder auch ein alogischer Text des Malers Kasimir Malewitsch. Insgesamt aber liefert die unkonventionelle "Blütenlese" (das griechische Wort für Anthologie) einen beeindruckenden Strauß sowohl aus Orchideen als auch zarten Feldblumen.
Besonders produktiv ist die Lyrik-Produktion im sogenannten "Silbernen Zeitalter" der 10er- und 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts, als neben berühmten Vertretern von Symbolismus, Akmeismus, Futurismus oder der Oberiuten auch Einzelfiguren auf den Plan treten. Den Namen Sinaida Gippius hat der ein oder andere hierzulande schon im Zusammenhang mit der St. Petersburger Salonkultur gehört. Wegbereiterinnen aber der lesbischen Lyrik wie Poliksena Solowjewa, Sofija Parnok oder Tscherubina der Gabariak sind selbst in Russland nicht allzu vielen vertraut. Ähnliches gilt für die Dichter der sogenannten "Pariser Note", Emigranten in Frankreich wie Georgij Adamowitsch, Anatolij Steiger oder Nikolaj Ozup oder Wortführer der patriarchalen bäuerlichen Lyrik wie Nikolaj Klujew, die sich gegen die Forschrittsideologie der jungen Sowjetunion aussprechen.
Die Anthologie bedient sich einer umgekehrten Chronologie: Sie beginnt mit einem Gedicht aus dem Jahr 2000 von Boris Ryshij und endet mit einem Gedicht Konstantin Batjuschkows von 1817, was dem Leser eine allmähliche Annäherung an sich entfernende Zeitläufe und den Wandel von Themen ermöglicht. Statt eines Nachworts findet man einen Klassiker-Text der slavischen Literaturwissenschaft: Roman Jakobsons "Anmerkungen zu den Wegen der russischen Poesie". Ein ausführlicher Apparat mit Hinweisen zu Leben und Werk vertieft den kurzen Gruß der einzelnen Dichter. Und dieser Gruß kommt erfreulicherweise zweisprachig daher: links das russische Original, rechts die sensiblen Übertragungen von Felix Philipp Ingold.
Besprochen von Olga Hochweis
Felix Philipp Ingold (Hg.):Als Gruß zu lesen
Russische Lyrik von 2000 bis 1800
Dörlemann, Zürich 2012
400 Seiten, 35 Euro