Selbstmord am Küchentisch

Vreli und Sali lieben sich und dürfen nicht zusammen sein. Die Frankfurter Oper inszeniert die Romeo-und-Julia-Geschichte besonders aufwendig und stimmig. Ein ästhetischer Trumpf.
Die Geschichte von Frederick Delius Oper „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ ist schnell erzählt. Es ist die Geschichte von Pyramus und Thisbe, die Geschichte von Tristan und Isolde, die Geschichte von Romeo und Julia, also die Geschichte der unerfüllten Liebe, die vermeintlich nur im Tod ihre Erfüllung findet. Delius zeichnet allerdings die bodenständige Variante von Gottfried Kellers gleichnamiger Novelle nach: die beiden Liebenden leben auf dem Dorf, das heißt unter strenger sozialer Kontrolle und unter den Zwängen ihrer herrischen Väter.
Eva-Maria Höckmayr hat Frederick Delius‘ Oper nun in Frankfurt auf die Bühne gebracht. Es ist ihr Debüt an der Oper Frankfurt, es ist auch für das Delius-Stück eine Frankfurter Premiere. Natürlich macht Höckmayr aus dieser bodenständigen Geschichte kein Bauerntheater. Sie inszeniert diese einfache Geschichte so artifiziell, so surreal, so verkünstelt, dass man sie anfangs kaum erkennt. Gleich vom ersten Bild an baut Höckmayr nämlich zwei Welten auf die Bühne: die Todeswelt in der Todesfarbe „Weiß“ gehalten und die reale Welt, in Realweltfarben (Bühnenbild: Christian Schmidt). Eine Bauernstube mit Tisch und Stühlen und einem Kaninchenstall mit echtem Rammler müssen als Milieumarkierer reichen.
Alles mal zwei – in Weiß und Farbig
Diese Bauernstube ist gedoppelt: in weiß und in farbig. In beiden Stuben wird die Geschichte darstellerisch erzählt: gesungen wird immer nur in einer. Höckmayr baut diese Doppelwelten konsequent die ganze Oper hindurch, sie verdoppelt viel, auch die Protagonisten lässt sie in Flashbacks, in Sideflashes und Flashforwards doppelt erscheinen: mal als Kinder, mal als Teenager, mal als alte Menschen. So zeigt sie, dass diese Liebe wie ein ehernes Gesetz die beiden Liebenden verfolgt. Sie ist ihnen in ihren Lebensplan eingeschrieben. Diese Liebe ist ihr Schicksal.
Neben der Bauernstube lässt Höckmayr das Geschehen in einem Treppenhaus, auf einem freien Feld mit Baum und Wolkenpanorama spielen. Alle diese Orte werden per Drehbühne – die Oper Frankfurt besitzt die größte Drehbühne Europas – nach Art der Filmblendtechnik ineinander geblendet. Alle diese Orte sind so aufgeräumt, sauber, aseptisch und so streng geometrisch vermessen, dass sie die Atmosphäre eines Versuchslabors versprühen. Hier wird also mit Liebe experimentiert.
Gleichzeitigkeit statt Wirklichkeit
Und hier wird eine Geschichte nicht chronologisch erzählt, sondern durch die Simultaneität des Geschehens der Wirklichkeit enthoben. Eva-Maria Höckmayr zimmert Archetypen: über die Vater-Tochter-Beziehung, über die Liebe als Fixierung, sie will Urbilder schaffen, die sie in großen Bühnentableaus ausmalt.
Die Musik fängt die eisige Kälte der Bühne butterweich auf. Delius schreibt für diese Romeo-und-Julia-Geschichte eine große schwelgerische Musik, gleich vom ersten Ton an denkt man an schmelzigen Puccini-Belcanto. Weit gefehlt: Sobald die Sänger singen, hört man in den Männerstimmen Wagner-Tonfall: kräftig, groß, weit ausladend, Anspielungen auf Wagner-Leitmotive, wie Isoldes Liebestod „Mild und leise“ aus „Tristan und Isolde“ etwa, verwaschen das Bild einer Liebreiz-Musik.
Dazu kommen zwar aus dem Orchestergraben Puccini-Klänge, aber die Musik ist recht komplex, sie macht viele Anleihen, experimentiert verhalten, so dass man mitunter auch jazzige Elemente hört. Paul Daniel weiß das alles zu nehmen, er lässt die Musik aufblühen, spielt die Partitur, als sei sie ein Repertoireklassiker. Daniel führt die Sänger sicher durch die tückische Drehbühnen-Inszenierung und lässt ihnen den Raum, den ihre Stimmen brauchen. Delius schreibt so innig und berückend für die Stimme, dass es eigentlich keine große Szene braucht. Alle fünf Sängersolisten finden den richtigen Tonfall, die richtige Farbe, haben Kraft und Ausdauer für die durchkomponierten Arien und liefern eine prächtige Ensembleleistung.
Zu viel der Liebe
Diese Produktion trumpft vor allem musikalisch, eben weil das stark konstruierte Bühnengeschehen auf Dauer etwas überambitioniert erscheint. Es wird wirklich viel simultan geküsst, geturtelt und umarmt. Es gibt sehr genau choreographierte Chorszenen, streng formatierte Massenszenen mit Schaufensterpuppen, die an Familienaufstellungen erinnern. Die vielen psychoanalytischen Anspielungen, auch die Inszenierung des schwarzen Geigers (Johannes Martin Kränzle) als Personifizierung des Determinismus, sind intellektuell sehr attraktiv und zeigen, dass man diese Geschichte hier wirklich konsequent ausbuchstabieren will.
Bei so viel Überfluss an „Liebe“ entsteht am Ende allerdings seltsamerweise der Eindruck, dass es gar nicht um Liebe geht bei diesem Frankfurter Romeo-und-Julia-Paar, sondern um eine krankhafte Fixierung, die sie für Liebe halten. Warum? Ihre Liebe berührt nicht. Auch dann nicht, wenn die beiden am Ende kollektiven Selbstmord am Küchentisch begehen. Diese Liebe war einfach von Anfang an zu unecht.