Michele Robecchi/Francesca Bonazzoli: Gesichter mit Geschichten
Aus dem Italienischen übersetzt von Daniela Papenberg
Prestel Verlag, München 2020
200 Seiten, 30 Euro
Wenn die Geliebte als Madonna das Altarbild ziert
05:31 Minuten
Wer war Leonardos "Dame mit dem Hermelin"? Wer Tizians "Danaë" oder der "Neighbour" von Marlene Dumas? Ein prächtiger Bildband erzählt spannende und vergessene Geschichten hinter berühmten Porträts aus fünf Jahrhunderten.
Für seine Zeitgenossen war Caravaggios Gemälde "Madonna dei Pellegrini" eine Herausforderung. Die anmutige Frau inszenierte der Maler mit bloßen, sich überkreuzenden Füßen auf einer steinernen Treppe. Das Jesuskind in ihren Armen war viel zu groß und wuchtig.
Völlig inakzeptabel aber erschienen die Pilger, die in zerschlissener Kleidung vor Mutter und Sohn knien und die flehenden Hände erheben, während sie dem Betrachter ihre schmutzigen Füße entgegenstrecken. Soviel Realismus war 1604 unerwünscht.
Unehelicher Sohn einer Prostituierten als Jesuskind
Vollends zum Skandal wurde das Altarbild der Augustinerkirche in Rom jedoch aus einem anderen Grund, wie die Kunsthistoriker und Kuratoren Michele Robecchi und Francesca Bonazzoli in ihrem prachtvollen Bildband "Gesichter mit Geschichten" erläutern.
In der Madonna, so die Autoren, hatte der Künstler seine Geliebte porträtiert, die Prostituierte Magdalena di Paolo Antognetti. Das Jesuskind trug die Züge ihres unehelich mit einem verhafteten Vagabunden gezeugten, zwei Jahre alten Sohns.
Und die beiden Alten in Lumpen waren stadtbekannte Obdachlose, die "alle Kirchgänger an die armen Stadtstreicher erinnerten, die Papst Clemens regelmäßig auf die Galeeren schickte, in der Hoffnung, die Stadt von ihnen zu säubern."
Kunstgeschichte der anderen Art
Es sind durchweg spannende, wenig bekannte oder vergessene Geschichten, mit denen Michele Robecchi und Francesca Bonazzoli ihre Kunstgeschichte der anderen Art erzählen. Im Mittelpunkt stehen 43 Werke aus fünf Jahrhunderten – Gemälde, Zeichnungen, Skulpturen, Fotografien und Installationen –, die die italienischen Autoren nach den abgebildeten Personen befragen.
Sie untersuchen etwa, wer die "Dame mit dem Hermelin" (1489/90) von Leonardo da Vinci war, wen Rembrandt als "Badende Frau" (1654) malte, wer sich hinter dem "Boy with a cat" (1787) von Thomas Gainsborough verbarg, wen Jean-Michel Basquiat als "Hollywood Africans" (1983) darstellte oder welche Identität "The Neighbour" (2005) von Marlene Dumas hat.
Rubens malte die eigene Ehefrau nackt
Faszinierenderweise ändert sich der Blick auf die hier durchweg im Großformat abgebildeten und von weiteren Bildern flankierten Werke mit diesen "Enthüllungen". Zu erfahren, dass Spione, Prostituierte und Ehefrauen, ein Terrorist, die Tochter oder auch der eigene Zahnarzt Modell standen, ist nicht nur interessant, sondern auch aufschlussreich.
Denn erst so zeigt sich beispielsweise der Mut eines Peter Paul Rubens, als erster Maler überhaupt seine Ehefrau nackt zu präsentieren, ebenso wie ihre Souveränität, dies zuzulassen. Auch vermittelt sich unmittelbar Caravaggios Chuzpe, Menschen von der Straße in einem Altarbild zu verewigen.
Und Kerry James Marshalls Frauenporträts in kleinen Medaillons verschlagen einem erst dann den Atem, wenn man weiß, dass es sich um aus einer Dokumentarfotografie herauskopierte Gafferinnen handelt, die 1930 einem brutalen Lynchmord beiwohnten.
So lässt sich Kunstgeschichte – auch für Laien – spannend erzählen. Und beim nächsten Gang ins Museum dürfte der Blick ein anderer sein, egal ob er auf Madonnen, Kinder oder Pilgernde fällt!