Macho: Krebsbücher haben nichts mit Eitelkeit zu tun
Der Kulturwissenschaftler Thomas Macho stört sich nicht an der Welle von Büchern, in denen Prominenten von ihrem Krebsleiden erzählen. Vielmehr bieten die Bücher die Möglichkeit zu einem "Gespräch über ansonsten unüberschreitbare Grenzen hinweg". Zudem erinnerte Macho daran, dass im Mittelalter das "gute Sterben" stets öffentlich war.
Frank Meyer: "Lasst mich mit eurem Krebs in Ruhe. Ich kann es nicht mehr hören und lesen". Das hat der FAZ-Redakteur Richard Kämmerlings vor kurzem geschrieben angesichts neuer Bücher über Krebs und Sterben. Es gibt viele solcher Bücher in letzter Zeit, besonders von Prominenten und darüber will ich mit Thomas Macho sprechen. Er ist Professor für Kulturgeschichte an der Berliner Humboldt-Universität. Mit dem Tod in unserer Zeit hat er sich immer wieder befasst, unter anderem in dem Buch: Die neue Sichtbarkeit des Todes. Thomas Macho, verstehen Sie denn diese Haltung: Lasst mich mit eurem Krebs in Ruhe. Ich kann es nicht mehr hören?
Thomas Macho: Als Abwehrhaltung kann man das ja ganz gut verstehen, insbesondere als Abwehrhandlung eines Feuilletonjournalisten, der mit diesem Büchern professionell konfrontiert wird. Wenn man an sein Publikum, an seine Leserschaft, denkt, dann versteht man es schon wieder nicht so ganz, weil man sagen könnte, um Gottes Willen, Bücher, die ich nicht lesen will, die brauche ich ja nicht lesen, die muss ich nicht einmal kaufen, worin besteht denn das Problem.
Meyer: Jürgen Leinemann hat sein Buch in dieser Woche vorgestellt. Das wurde auch viel beachtet, viel gespiegelt in den Medien, auch hier bei uns. Er schreibt in diesem Buch über seinen Krebs, über eine ganze Kette von begleitenden Operationen. Das ist natürlich auch eine bedrückende Lektüre. Er schreibt auch über die Folgen. Er kann zum Beispiel heute nur noch mit Hilfe einer Prothese sprechen. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er denn eine Erklärung dafür hat, warum heute so viele, auch prominente Menschen, solche Bücher schreiben:
"Meine Erklärung ist, dass wir eben alle so viel älter werden, und dass die Zahl der Leute, die das erleben und das durchmachen und das auch reflektieren, dass die größer geworden ist als früher. Und in der allgemeinen Neigung auch zur Individualität und die menschlichen Einheiten und darüber sich auch auszutauschen, ist der Krebs auch kein Tabu mehr."
Meyer: Das sagt Jürgen Leinemann. Thomas Macho, die Erklärung, die er anbietet: Es hat auch was damit zu tun, seine Individualität auch in der Krankheit, in der Begegnung mit dem Tod auszudrücken, das drückt sich in diesen Büchern aus. Beobachten Sie das auch, gehen Sie da mit?
Macho: Da würde ich auch mitgehen. Das ist ein Effekt, das sagt Leinemann ja auch, einer älter werdenden Gesellschaft. Es werden immer mehr Menschen älter und erleben und überleben auch solche Erkrankungen à la longue.
Und umgekehrt kann man sagen, verschwinden religiöse Deutungsmuster, die eben sehr verbreitet waren und in denen wiederum die Individualität gar nicht so eine Rolle gespielt hat, sondern eher die Beachtung von Ritualen. Das ist für uns nicht mehr so wichtig und deshalb findet der individuelle Ausdruck sehr viel mehr Aufmerksamkeit.
Und was könnte es für einen klareren, für einen besseren Ausdruck für dieses individuelle Erleben auch des Schreckens einer Krankheit unter Todesdrohungen geben, als das Schreiben? Das erinnert mich an diese berühmte Gedicht von Gottfried Benn, in dem es heißt: "Komm reden wir zusammen. Wer redet ist nicht tot". Man müsste heute sagen: Wer schreibt ist nicht tot, sondern kann vielleicht sogar im Schreiben und in der Darstellung, die in solchen Büchern Ausdruck findet, sein Leben noch mal als ein Ganzes, als ein gutes Ganzes, vergegenwärtigen.
Meyer: Aber gerade wenn Sie das Religiöse ansprechen, liegt darin nicht auch ein so ein Moment von Selbstüberhebung, also ein Vorwurf, der diesen Büchern ja immer wieder gemacht wird, ist der der Eitelkeit. Es wäre eitel, wenn jemand mit seinem eigenen persönlichen Krankheitsschicksal so vor die Welt tritt. Da steckt auch ein Moment von Schamlosigkeit vielleicht darin, mit diesen letzten Geheimnissen so in die Öffentlichkeit zu gehen. Und wenn Sie das Religiöse ansprechen, hat das nicht auch etwas Selbstüberhebliches, seine eigene Erfahrung dann ja auch vielleicht so zu inszenieren als eine quasi religiöse Erfahrung?
Macho: Na, ich habe die Bücher von Schlingensief oder von Leinemann nicht als Inszenierung von religiösen Erfahrungen erlebt, sondern eher als den Versuch, etwas mitzuteilen an ein Publikum, dass ähnliche Erfahrungen vielleicht auch schon gemacht hat und mit dem man anders gar nicht in Kontakt kommt. Und das gelingt gerade auch im Verbund zwischen der Buchpublikation und dem Internet inzwischen immer besser, dass hier auch ein Gespräch über ansonsten unüberschreitbare, unsichtbare Grenzen hinweg gelingen kann.
Von daher würde ich diesen Vorwurf der Eitelkeit zurückgeben und würde daran erinnern, dass es etwa noch im Mittelalter zu den Regeln des guten Sterbens gehört hat, das gute Sterben auch öffentlich zu machen. Das heißt, alle Verwandten, alle Leute, die man kannte, womöglich alle Einwohner in einer kleinen Stadt, einzuladen ans Sterbebett zu kommen, mit einem noch mal zu sprechen, die letzten Worte anzuhören und zu bezeugen, dass jemand eben auch rechtmäßig und ordentlich diese Welt wieder verlassen hat.
Meyer: Ein Argument, auf das man auch trifft in dieser Debatte, das ist sozusagen das mediale Umfeld. Richard Kämmerlings, der FAZ-Redakteur, schreibt, was so unangenehm ihn berühre an diesen Krebsbüchern, ist etwas, was er die "Kontamination mit dem Boulevard" nennt, also was wir alle kennen, dass der Boulevard, die Boulevardzeitung, leider auch die boulevardisierten Öffentlich-Rechtlichen, solche Themen, die krebskranke Schauspielerinnen und so weiter bis zum Ende durchzerren. Diese Nähe zum Boulevard stört Sie nicht?
Macho: Nein, die stört mich nicht. Diese Abwehr, die teile ich nicht. Man muss immer daran erinnern, dass etwa Richard Sennetts große These von der Tyrannei der Intimität auf die Politik bezogen war und nicht auf die Umgangsformen unter Menschen selbst. Wenn ein Politiker heute vor uns hintritt und tränenreich beschwört, dass er sich falsch verhalten hat, als er seine Praktikantin gestattet hat, ihm sexuell zu Diensten zu sein, dann finde ich das eine Tyrannei der Intimität, nicht wenn ein bekannter Regisseur über sein Krebsleiden schreibt.
Meyer: Ein bekannter Regisseur zum Beispiel, Christoph Schlingensief, was hat Ihnen die Begegnung mit so einem Buch gegeben?
Macho: Ja, das war eine Begegnung mit einer sehr individuellen Form von Expression. Und das hat mir schon viel gegeben, weil ich gefühlt habe, dass ein Teil des Schreckens, der mit solchen Erkrankungen zusammenhängt, auch der Selbstverschluss ist, das heißt, die Unfähigkeit. Man ist sozusagen nur noch ein Imprint der Krankheit, ein Imprint des Tumors und dass Schlingensief diese Gegenbewegung einschlägt, dass er zur Expression geht, dass es sozusagen noch einmal ausdrückt, was möglich ist und was überhaupt ausgedrückt werden kann, das ist eine Leistung dieses Buches, natürlich auch die Leistung seines Theaters der Angst, dass ich für ein ganz bedeutendes Ereignis gehalten habe.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über die Welle von Büchern, die sich mit Krebs und Sterben auseinandersetzen, mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Gibt es für Sie auch eine Grenze? Sie verteidigen diese Bücher, aber gäbe es für Sie auch eine Grenze, wo Sie sagen, auf die Art will ich mir nicht vom Krebs erzählen lassen, vom Sterben erzählen lassen?
Macho: Ja, es gibt eine Grenze dort, wo es um das Sterben anderer Menschen geht. Es ist so, dass natürlich eine Form unbewusster Aggressivität gegenüber dem Tod anderer Menschen sich auch dann Bahn brechen kann in Darstellungen. Ich habe zum Beispiel, um ein konkretes Buch zu nennen, das Buch von Tilman Jens über die Demenz seines Vaters, da ging es gar nicht um Tod, sondern um eine schwere Krankheit, das habe ich deshalb grenzwertig gefunden, weil dieser unbewusste Hass, der da mitkommuniziert wird, an bestimmten Stellen unerträglich wird, wo man so auch das Gefühl hat, dass die moralische Bewertung eines Lebens, das jetzt eben nicht mehr ganz werden kann, sondern im Elend der Demenz zu Ende geht, dass die ungerechtfertigt ist. Da will ich nicht mitgehen.
Meyer: Es gibt auch ein neues Buch von einem Journalisten, der über den Krebstod seiner Mutter schreibt und genau ihre Krankenakten veröffentlicht, wo man nicht weiß, ob dass mit ihrem Einverständnis geschieht. Das wäre für Sie auch jenseits dieser Grenze?
Macho: Also das Buch von Diez ist zweifellos sehr viel mehr um Einfühlung und Behutsamkeit bemüht, als etwa dieses vorhin erwähnte Buch. Aber ich würde sagen, hier ist es besonders wichtig, auf Grenzverletzungen zu achten und sorgfältig damit umzugehen und ob die Veröffentlichung von Krankenakten sein muss oder nicht vielmehr, das, was man in der Psychoanalyse die "Analyse der Gegenübertragung" nennt, das heißt, meine Befindlichkeit im Umgang damit im Vordergrund stehen sollte, dass kann ich da zur Debatte stellen.
Meyer: In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" findet man einen großen Artikel über diese neuen Bücher von der Literaturredakteurin Iris Radisch verfasst und sie spricht da von der "Metaphysik des Tumors", also von der religiösen Aufladung dieser Bücher und sie deutet diese Bücher auch religiös in der Hinsicht, dass sie die Erfahrung transportieren, dass wir nicht Herr im eigenen Hause sind, dass der Tod uns eine Grenze setzt, dass wir als Menschen, als hochmächtige Individuen, nicht über alles bestimmen können. Sind das in diesem Sinne auch für Sie religiöse Bücher?
Macho: Ja, wenn man religiös so weit verstehen will, dann sind es religiöse Bücher. Religiös in dem Sinne, in dem man auch die Lebensgrenzen als Schicksale, als etwas, was über uns kontingent hereinbricht, wahrnehmbar und damit vielleicht auch ein Stück weiter erträglich werden, in dem Sinn religiös, in dem Sinn auch metaphysisch, dass der Tumor selber zur Metaphysik geadelt wird, das will ja auch Frau Radisch nicht zum Ausdruck bringen.
Meyer: Und wenn wir noch eine andere These aus der "Zeit" uns anschauen, Iris Radisch schreibt auch, es könnte kein Zufall sein, dass diese Bücher über die Zerbrechlichkeit unseres eigenen Lebens in einer Zeit erscheinen, in der wir auch in anderer Weise Zerbrechlichkeit erfahren, nämlich unseres Gesellschaftssystems und des Wirtschafts- und Finanzsystems. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen der inneren, der körperlichen Krise, über die berichtet wird, und der äußeren Krise, in der wir leben?
Macho: Also den Zusammenhang habe ich so unmittelbar und so stark, wie Frau Radisch in dieser Bemerkung gemacht hat, nicht wahrgenommen, aber ganz generell kann man natürlich sagen, dass überall dort, wo Gewissheiten, Sicherheiten, Verlässlichkeiten, das Vertrauen in bestehende Strukturen verloren geht, der Reflektionsbedarf steigt und der bricht sich eben Bahn und der erzeugt sich seine Gegenstände in diesen Büchern. Das halte ich insgesamt für einen sehr positiven Effekt.
Thomas Macho: Als Abwehrhaltung kann man das ja ganz gut verstehen, insbesondere als Abwehrhandlung eines Feuilletonjournalisten, der mit diesem Büchern professionell konfrontiert wird. Wenn man an sein Publikum, an seine Leserschaft, denkt, dann versteht man es schon wieder nicht so ganz, weil man sagen könnte, um Gottes Willen, Bücher, die ich nicht lesen will, die brauche ich ja nicht lesen, die muss ich nicht einmal kaufen, worin besteht denn das Problem.
Meyer: Jürgen Leinemann hat sein Buch in dieser Woche vorgestellt. Das wurde auch viel beachtet, viel gespiegelt in den Medien, auch hier bei uns. Er schreibt in diesem Buch über seinen Krebs, über eine ganze Kette von begleitenden Operationen. Das ist natürlich auch eine bedrückende Lektüre. Er schreibt auch über die Folgen. Er kann zum Beispiel heute nur noch mit Hilfe einer Prothese sprechen. Ich habe mit ihm gesprochen und ihn gefragt, ob er denn eine Erklärung dafür hat, warum heute so viele, auch prominente Menschen, solche Bücher schreiben:
"Meine Erklärung ist, dass wir eben alle so viel älter werden, und dass die Zahl der Leute, die das erleben und das durchmachen und das auch reflektieren, dass die größer geworden ist als früher. Und in der allgemeinen Neigung auch zur Individualität und die menschlichen Einheiten und darüber sich auch auszutauschen, ist der Krebs auch kein Tabu mehr."
Meyer: Das sagt Jürgen Leinemann. Thomas Macho, die Erklärung, die er anbietet: Es hat auch was damit zu tun, seine Individualität auch in der Krankheit, in der Begegnung mit dem Tod auszudrücken, das drückt sich in diesen Büchern aus. Beobachten Sie das auch, gehen Sie da mit?
Macho: Da würde ich auch mitgehen. Das ist ein Effekt, das sagt Leinemann ja auch, einer älter werdenden Gesellschaft. Es werden immer mehr Menschen älter und erleben und überleben auch solche Erkrankungen à la longue.
Und umgekehrt kann man sagen, verschwinden religiöse Deutungsmuster, die eben sehr verbreitet waren und in denen wiederum die Individualität gar nicht so eine Rolle gespielt hat, sondern eher die Beachtung von Ritualen. Das ist für uns nicht mehr so wichtig und deshalb findet der individuelle Ausdruck sehr viel mehr Aufmerksamkeit.
Und was könnte es für einen klareren, für einen besseren Ausdruck für dieses individuelle Erleben auch des Schreckens einer Krankheit unter Todesdrohungen geben, als das Schreiben? Das erinnert mich an diese berühmte Gedicht von Gottfried Benn, in dem es heißt: "Komm reden wir zusammen. Wer redet ist nicht tot". Man müsste heute sagen: Wer schreibt ist nicht tot, sondern kann vielleicht sogar im Schreiben und in der Darstellung, die in solchen Büchern Ausdruck findet, sein Leben noch mal als ein Ganzes, als ein gutes Ganzes, vergegenwärtigen.
Meyer: Aber gerade wenn Sie das Religiöse ansprechen, liegt darin nicht auch ein so ein Moment von Selbstüberhebung, also ein Vorwurf, der diesen Büchern ja immer wieder gemacht wird, ist der der Eitelkeit. Es wäre eitel, wenn jemand mit seinem eigenen persönlichen Krankheitsschicksal so vor die Welt tritt. Da steckt auch ein Moment von Schamlosigkeit vielleicht darin, mit diesen letzten Geheimnissen so in die Öffentlichkeit zu gehen. Und wenn Sie das Religiöse ansprechen, hat das nicht auch etwas Selbstüberhebliches, seine eigene Erfahrung dann ja auch vielleicht so zu inszenieren als eine quasi religiöse Erfahrung?
Macho: Na, ich habe die Bücher von Schlingensief oder von Leinemann nicht als Inszenierung von religiösen Erfahrungen erlebt, sondern eher als den Versuch, etwas mitzuteilen an ein Publikum, dass ähnliche Erfahrungen vielleicht auch schon gemacht hat und mit dem man anders gar nicht in Kontakt kommt. Und das gelingt gerade auch im Verbund zwischen der Buchpublikation und dem Internet inzwischen immer besser, dass hier auch ein Gespräch über ansonsten unüberschreitbare, unsichtbare Grenzen hinweg gelingen kann.
Von daher würde ich diesen Vorwurf der Eitelkeit zurückgeben und würde daran erinnern, dass es etwa noch im Mittelalter zu den Regeln des guten Sterbens gehört hat, das gute Sterben auch öffentlich zu machen. Das heißt, alle Verwandten, alle Leute, die man kannte, womöglich alle Einwohner in einer kleinen Stadt, einzuladen ans Sterbebett zu kommen, mit einem noch mal zu sprechen, die letzten Worte anzuhören und zu bezeugen, dass jemand eben auch rechtmäßig und ordentlich diese Welt wieder verlassen hat.
Meyer: Ein Argument, auf das man auch trifft in dieser Debatte, das ist sozusagen das mediale Umfeld. Richard Kämmerlings, der FAZ-Redakteur, schreibt, was so unangenehm ihn berühre an diesen Krebsbüchern, ist etwas, was er die "Kontamination mit dem Boulevard" nennt, also was wir alle kennen, dass der Boulevard, die Boulevardzeitung, leider auch die boulevardisierten Öffentlich-Rechtlichen, solche Themen, die krebskranke Schauspielerinnen und so weiter bis zum Ende durchzerren. Diese Nähe zum Boulevard stört Sie nicht?
Macho: Nein, die stört mich nicht. Diese Abwehr, die teile ich nicht. Man muss immer daran erinnern, dass etwa Richard Sennetts große These von der Tyrannei der Intimität auf die Politik bezogen war und nicht auf die Umgangsformen unter Menschen selbst. Wenn ein Politiker heute vor uns hintritt und tränenreich beschwört, dass er sich falsch verhalten hat, als er seine Praktikantin gestattet hat, ihm sexuell zu Diensten zu sein, dann finde ich das eine Tyrannei der Intimität, nicht wenn ein bekannter Regisseur über sein Krebsleiden schreibt.
Meyer: Ein bekannter Regisseur zum Beispiel, Christoph Schlingensief, was hat Ihnen die Begegnung mit so einem Buch gegeben?
Macho: Ja, das war eine Begegnung mit einer sehr individuellen Form von Expression. Und das hat mir schon viel gegeben, weil ich gefühlt habe, dass ein Teil des Schreckens, der mit solchen Erkrankungen zusammenhängt, auch der Selbstverschluss ist, das heißt, die Unfähigkeit. Man ist sozusagen nur noch ein Imprint der Krankheit, ein Imprint des Tumors und dass Schlingensief diese Gegenbewegung einschlägt, dass er zur Expression geht, dass es sozusagen noch einmal ausdrückt, was möglich ist und was überhaupt ausgedrückt werden kann, das ist eine Leistung dieses Buches, natürlich auch die Leistung seines Theaters der Angst, dass ich für ein ganz bedeutendes Ereignis gehalten habe.
Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir reden über die Welle von Büchern, die sich mit Krebs und Sterben auseinandersetzen, mit dem Kulturwissenschaftler Thomas Macho. Gibt es für Sie auch eine Grenze? Sie verteidigen diese Bücher, aber gäbe es für Sie auch eine Grenze, wo Sie sagen, auf die Art will ich mir nicht vom Krebs erzählen lassen, vom Sterben erzählen lassen?
Macho: Ja, es gibt eine Grenze dort, wo es um das Sterben anderer Menschen geht. Es ist so, dass natürlich eine Form unbewusster Aggressivität gegenüber dem Tod anderer Menschen sich auch dann Bahn brechen kann in Darstellungen. Ich habe zum Beispiel, um ein konkretes Buch zu nennen, das Buch von Tilman Jens über die Demenz seines Vaters, da ging es gar nicht um Tod, sondern um eine schwere Krankheit, das habe ich deshalb grenzwertig gefunden, weil dieser unbewusste Hass, der da mitkommuniziert wird, an bestimmten Stellen unerträglich wird, wo man so auch das Gefühl hat, dass die moralische Bewertung eines Lebens, das jetzt eben nicht mehr ganz werden kann, sondern im Elend der Demenz zu Ende geht, dass die ungerechtfertigt ist. Da will ich nicht mitgehen.
Meyer: Es gibt auch ein neues Buch von einem Journalisten, der über den Krebstod seiner Mutter schreibt und genau ihre Krankenakten veröffentlicht, wo man nicht weiß, ob dass mit ihrem Einverständnis geschieht. Das wäre für Sie auch jenseits dieser Grenze?
Macho: Also das Buch von Diez ist zweifellos sehr viel mehr um Einfühlung und Behutsamkeit bemüht, als etwa dieses vorhin erwähnte Buch. Aber ich würde sagen, hier ist es besonders wichtig, auf Grenzverletzungen zu achten und sorgfältig damit umzugehen und ob die Veröffentlichung von Krankenakten sein muss oder nicht vielmehr, das, was man in der Psychoanalyse die "Analyse der Gegenübertragung" nennt, das heißt, meine Befindlichkeit im Umgang damit im Vordergrund stehen sollte, dass kann ich da zur Debatte stellen.
Meyer: In der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung "Die Zeit" findet man einen großen Artikel über diese neuen Bücher von der Literaturredakteurin Iris Radisch verfasst und sie spricht da von der "Metaphysik des Tumors", also von der religiösen Aufladung dieser Bücher und sie deutet diese Bücher auch religiös in der Hinsicht, dass sie die Erfahrung transportieren, dass wir nicht Herr im eigenen Hause sind, dass der Tod uns eine Grenze setzt, dass wir als Menschen, als hochmächtige Individuen, nicht über alles bestimmen können. Sind das in diesem Sinne auch für Sie religiöse Bücher?
Macho: Ja, wenn man religiös so weit verstehen will, dann sind es religiöse Bücher. Religiös in dem Sinne, in dem man auch die Lebensgrenzen als Schicksale, als etwas, was über uns kontingent hereinbricht, wahrnehmbar und damit vielleicht auch ein Stück weiter erträglich werden, in dem Sinn religiös, in dem Sinn auch metaphysisch, dass der Tumor selber zur Metaphysik geadelt wird, das will ja auch Frau Radisch nicht zum Ausdruck bringen.
Meyer: Und wenn wir noch eine andere These aus der "Zeit" uns anschauen, Iris Radisch schreibt auch, es könnte kein Zufall sein, dass diese Bücher über die Zerbrechlichkeit unseres eigenen Lebens in einer Zeit erscheinen, in der wir auch in anderer Weise Zerbrechlichkeit erfahren, nämlich unseres Gesellschaftssystems und des Wirtschafts- und Finanzsystems. Sehen Sie da einen Zusammenhang zwischen der inneren, der körperlichen Krise, über die berichtet wird, und der äußeren Krise, in der wir leben?
Macho: Also den Zusammenhang habe ich so unmittelbar und so stark, wie Frau Radisch in dieser Bemerkung gemacht hat, nicht wahrgenommen, aber ganz generell kann man natürlich sagen, dass überall dort, wo Gewissheiten, Sicherheiten, Verlässlichkeiten, das Vertrauen in bestehende Strukturen verloren geht, der Reflektionsbedarf steigt und der bricht sich eben Bahn und der erzeugt sich seine Gegenstände in diesen Büchern. Das halte ich insgesamt für einen sehr positiven Effekt.