Übernimmt der IS Boko Haram?
Die Terrormiliz Boko Haram in Nigeria ist tief gespalten. Die Nachricht über einen internen Putsch ist ein weiterer Beleg dafür. Das könnte die ganze Region destabilisieren und den Einfluss des IS vergrößern.
Es rumort bei Boko Haram. Offenbar hat der Islamische Staat, das derzeit mächtigste Terrornetz der Welt, bei Boko Haram einen Putsch angezettelt. Immerhin wurde die die Nachricht, der Islamische Staat habe Boko-Haram-Führer Abubakar Shekau abgesetzt und Abu Musab al-Barnawi zum neuen Terrorboss bei Boko Haram ausgerufen, gezielt in den Medien des IS veröffentlicht. Dies könnte bestätigen, was der nigerianische Politikberater Kabiru Adamu schon lange beobachtet: eine tiefe Spaltung der Organisation Boko Haram.
"Wir erleben nun eine Spaltung auf der Grundlage der Ideologie. Ein Teil von Boko Haram befürwortet das willkürliche und wahllose Töten von Frauen, Kindern, darunter viele Christen, Juden, aber eben auch einer Menge Muslime. Der andere Teil von Boko Haram will das nicht länger hinnehmen - und erklärt, dass der Mord an Muslimen mit dem Islam nicht vereinbar sei. Dieser Konflikt dürfte zur Spaltung geführt haben."
Neuer Boko-Haram-Chef wird Strategie kaum ändern
Bisher war der mutmaßliche Nachfolger al-Barnawi für die Pressearbeit bei Boko Haram verantwortlich. Nun scheint al-Barnawi ganz oben angekommen - der IS hat ihn als neuen "Wali", als Gouverneur der westafrikanischen Provinz des Islamischen Staates vorgestellt. In einem Offenen Brief greift al-Barnawi Shekau an - das Tondokument wurde auf islamistischen Seiten im Internet verbreitet.
Unter dem Jubel seiner Anhänger wirft Al Barnawi Shekau vor, Gott zu spielen und den Islam zu missbrauchen. Shekau sei zu weit gegangen, sei in Ungnade gefallen, habe "dem Anführer im Irak nicht gehorcht", sagt al Barnawi. Der Anführer, offenbar auch sein Anführer, das ist IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi.
"Das muss alles noch lange nicht bedeuten, dass der neue Chef seine Strategie großartig ändert", vermutet der Politikbeobachter Kabiru Adamu. "Al-Barnawi wird weniger Muslime, weniger Frauen töten lassen - aber das Ziel eines Kalifats, eines Gottesstaates, wird auch in seinem Dschihad dasselbe sein."
Ist der Einfluss des IS stärker als gedacht?
Bislang war die Zusammenarbeit von Boko Haram mit dem IS als Propaganda betrachtet worden - auch von westlichen Geheimdiensten. Möglicherweise ist der Einfluss des IS aber doch so stark, dass er Boko Haram eben nicht nur Geld, Waffen, Munition, Logistik und Expertise für professionelle Internet-Videos zur Verfügung stellt, sondern auch die Strategie bestimmt.
Auf jeden Fall aber hat der IS den Machtkampf innerhalb von Boko Haram beschleunigt und verschärft. Die nigerianische Armee sieht das zunächst positiv - und wertet die Zersplitterung als Folge der jüngsten militärischen Erfolge im Kampf gegen die Terrorgruppe. So sieht das auch Politikbeobachter Kabiru Adamu. Doch er warnt zugleich: Zum Jubeln bestehe überhaupt kein Anlass:
"Natürlich ist Boko Haram geschwächt. Ende 2014, Anfang 2015 hatten sie im Norden Nigerias ein riesiges Gebiet erobert, aber mittlerweile haben sie in keinem Bundesstaat mehr die uneingeschränkte Kontrolle. Das Militär hat also einen guten Job gemacht. Aber es wäre gefährlich, diese Situation falsch einzuschätzen. Die ursprüngliche Strategie der Terrorgruppe mag nicht mehr funktionieren, aber die Ideologie bleibt gefährlich. Und noch sehe ich nicht, welche Lösungen Nigeria hat, um die Verbreitung der Ideologie zu verhindern."
Wettbewerb um die Terror-Vorherrschaft im Sahel
Viele Szenarien sind möglich - beruhigend ist keines. Im Gegenteil: Da sind die Aussagen des designierten neuen Boko-Haram-Chefs al-Barnawi, vor allem christliche Ziele ins Visier zu nehmen. Das könnte bedeuten, dass seine - die wahrscheinlich dominante - Fraktion den Terror in den christlich geprägten Süden Nigerias ausdehnt. Von dort kommen bereits klare Ansagen: Ein Sprecher der Niger Delta Avengers, der militanten Widerstandsgruppe im ölreichen Süden, sagte, für jeden Angriff auf Christen würden im Gegenzug Muslime getötet und Moscheen brennen. Das klingt nach religiöser Bürgerkriegsrhetorik.
Die Fraktion um den offenbar entmachteten Abubakar Shekau wiederum könnte sich Al Kaida im Islamischen Maghreb zuwenden, dem Terror-Konkurrenten des IS. Damit wäre das Chaos perfekt - nicht nur, was die Facetten des Terrors in Nigeria betrifft, sondern in der gesamten Region. Die jüngsten Ereignisse zeigen jedenfalls: Der IS versucht, seinen Einfluss von Libyen aus weiter nach Westafrika auszudehnen. Der Machtkampf bei Boko Haram könnte der Vorbote eines Wettbewerbs um die Terror-Vorherrschaft im Sahel sein. Womöglich läuft dieser Wettbewerb schon längst - auf Hochtouren.