Gewalt von Lehrkräften

Wenn Kinder nicht mehr sicher sind

Ein leeres Klassenzimmer in einer Berliner Grundschule.
Schulangst kann ein Kind erfüllen, wenn es vor der Klasse bloßgestellt und gedemütigt wird. © Getty Images / Maskot
Von Katharina Elsner |
Gewalttätige Lehrkräfte an Schulen sind ein Tabuthema. Doch ein besonders krasser Fall von Machtmissbrauch im Klassenzimmer hat zur Suspendierung einer Lehrerin geführt. Was können Schulen tun, um Kinder besser zu schützen? 
"Du bist zu dumm. Du verstehst es einfach nicht." Auf diese Art soll eine Lehrerin einer Grundschule in Mecklenburg-Vorpommern Schülerinnen und Schüler beschimpft haben. Auch Schläge soll sie verteilt haben - so erzählen es einige Kinder nach langem Zögern einer Sozialarbeiterin. Betroffene Eltern hatten das Gespräch mit der Lehrerin und der Schulleitung gesucht, zunächst aber wenig erreicht. Erst als sie physische Gewalt ausübte und mehrere Kinder einer anderen Lehrkraft sagten, sie hätten Angst vor ihrer Klassenlehrerin, wurde die Frau vorläufig suspendiert. Was aus dem Fall zu lernen ist.

Was wird der Lehrerin vorgeworfen?

Seit Jahren soll die Lehrerin an einer Grundschule Kinder immer wieder vorgeführt, gedemütigt, gemobbt, angeschrien und geohrfeigt haben. Seit Jahren versuchen Eltern gegen die Lehrerin vorzugehen. Sie haben dokumentiert, was ihren Kindern widerfahren ist, in Gesprächsnotizen, Sprachnachrichten, Protokolle und E-Mails. Eine Mutter berichtet, die Lehrerin habe ihrem Sohn den Mund mit einem Pflaster zugeklebt, weil er angeblich "gequatscht" habe. Eine andere Mutter berichtet, dass ihr Kind einen Zettel auf seinen Tisch kleben sollte: 'Ich soll nicht quatschen. Ich soll mich mehr melden.' Alle Kinder sollten aufpassen, dass es sich daran hält. Die Lehrerin soll den Drittklässler auch allein in einen Nebenraum geschickt haben, ohne dass er verstanden habe, warum.

Wie verbreitet ist Machtmissbrauch im Klassenzimmer?

Erziehungswissenschaftlerinnen können schon seit den 1990er-Jahren belegen, dass Lehrkräfte im Klassenzimmer Gewalt ausüben. Qualitative Interviews mit Kindern, Eltern und Lehrkräften aus Deutschland und Österreich zeigen: Jedes dritte Kind kennt Lehrpersonen, die Kinder oder Jugendliche vor der ganzen Klasse blamieren. Fast jedes zehnte Kind sagte, Lehrkräfte seien auch schon mal handgreiflich geworden. In einer repräsentativen Befragung von mehr als 44.000 Neuntklässlern in ganz Deutschland hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen 2009 herausgefunden: 27 Prozent der Kinder sind nach eigenen Angaben schon mal von Lehrkräften lächerlich gemacht worden. Einige gaben an, geschlagen worden zu sein.

Seit wann ist physische Gewalt in der Schule verboten?

Seit fast 25 Jahren steht im Bürgerlichen Gesetzbuch: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung". Und: "Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig". Bis ins Jahr 2000 durften Eltern ihre Kinder noch züchtigen. In den Schulen der DDR war die Prügelstrafe schon seit 1949 verboten, in den Schulen der BRD erst seit 1973.

Was ist emotionale Gewalt von Lehrkräften?

Der Psychologe Tobias Hecker, der an der Universität Bielefeld zu Gewalt gegen Kinder und Jugendliche forscht, beobachtet, dass in Bereich der emotionalen Gewalt viel mehr stattfindet, als allgemein angenommen werde. Emotionale Gewalt: Das seien "Phänomene wie das Bloßstellen von anderen, das Abwerten von Schülern und Schülerinnen. Das wird oft als alltäglich erlebt, ist aber trotzdem etwas, was Kinder und Jugendliche mitunter jahrelang prägen kann. Und das besser zu verstehen und da vielleicht auch ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, wie man es verhindern kann, das ist sicherlich eine Aufgabe, die in Deutschland bisher nicht ausreichend angegangen wird."
Hecker definiert Gewalt als "Handlungen oder Erlebnisse aus Sicht der Kinder, die Schmerzen auslösen. Bei körperlicher Gewalt ist das recht einfach, da geht es darum, dass körperlicher Schmerz ausgelöst wird. Emotionale Gewalt wären dann Handlungen, die emotionalen Schmerz auslösen." Gewalt kann daher auch bedeuten, dass Lehrkräfte Kinder an der Tafel vorführen, sie ausgrenzen und vor die Tür schicken, mit dem Schlüsselbund werfen, Noten zur Disziplinierung einsetzen, Ohrfeigen verteilen, sexuell übergriffig werden oder Kinder beleidigen.

Welche Faktoren erzeugen Schulangst bei Kindern?

Eine Mutter schreibt über die emotionale Gewalt, die ihr Kind seitens der Lehrerin erlitt: "Aufgrund dieser Ereignisse leidet unser Sohn unter Versagensängsten. Vor der ganzen Klasse werden Schüler, die eine schlechte Note erhalten haben, stigmatisiert, wobei sogar die Anzahl und die Art der schlechten Noten genannt wird. Fehlerhafte Arbeitsblätter werden zerrissen oder mit den Worten 'Knüll in Müll' in den Papierkorb geworfen. Dazu kommen persönliche Beleidigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen. Für ein Fehlverhalten wurde ihm ein Stempel auf die Wange gedrückt, worüber die ganze Klasse gelacht hat. Nachdem wir der Lehrerin mitteilten, dass wir das nicht tolerieren, schimpfte sie erneut vor der Klasse mit ihm und meinte, er verstünde keinen Spaß. Früher hat er sich gefreut, in die Schule zu gehen. Heute kommt er oft am Boden zerstört nach Hause."
Manche Kinder entwickelten Ängste, andere Aggressivität - Gewalt wirkt und kann dazu führen, dass Kinder sich weigern, zur Schule zu gehen, sagt der Psychologe Tobias Hecker: "Schulangst heißt, mit hoher Anspannung und Ängstlichkeit in die Schule zu gehen, was dann auch wieder zusammenhängt mit schlechteren Schulleistungen. Diejenigen Schüler und Schülerinnen, die besonders viel emotionale und körperliche Gewalt erlebt haben, haben tatsächlich schlechte Schulleistungen gezeigt und haben auch in Tests zu kognitiven Fähigkeiten schlechter abgeschnitten."

Was kann eine "Verhaltensampel" bewirken?

Das Bildungsministerium von Mecklenburg-Vorpommern empfahl der Schule, die so genannte Verhaltensampel künftig verstärkt zu nutzen. Diese Ampel ist ein pädagogisches Instrument und kann als Plakat im Klassenzimmer hängen oder kleiner ins Hausaufgabenheft geklebt werden. Anhand von Beispielen erklärt sie, welche Verhalten richtig, also im grünen Bereich, welche kritisch (gelb) und welche rot, also verboten, sind.
Anne Piezunka, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit und Pädagogik in Berlin, fordert darüber hinaus: "Dann ist es aber für eine Schule auch total wichtig, eine Kultur der Besprechbarkeit zu schaffen. Also zu verankern, es passieren hier Grenzüberschreitungen. Was definieren wir als Grenzüberschreitung? Wenn es zu Grenzüberschreitungen kommt, inwiefern kann das innerhalb des Kollegiums angesprochen werden? Inwiefern kann man sich da gegenseitig Feedback geben und sagen, das ist nicht in Ordnung?"

Was empfehlen die "Reckahner Reflexionen"?

Die Reckahner Reflexionen sind ein Leitfaden für Lehrkräfte, den mehr als einhundert Menschen aus Praxis, Verwaltung, Wissenschaft und Bildungspolitik in einem fünfjährigen Prozess erarbeitet haben. Die Reckahner Reflexionen enthalten zehn Richtlinien, die Lehrerinnen und Lehrer unterstützen können, pädagogische Beziehungen unter Wahrung der Menschen- und Kinderrechte zu gestalten. Die erste Leitlinie ist beispielsweise, Kinder wertschätzend anzusprechen und zu behandeln.
Das Team hinter den Reckahner Reflexionen bietet Schulungen für pädagogische Fachkräfte und Einrichtungen an, verschickt Regelbüchlein für Kinder, Flyer, Broschüren sowie Handlungsempfehlungen für Erwachsene. Manche Expertinnen und Experten fordern auch "prinzipiell öffentlichkeitsfähige Art des Unterrichts", das heißt: Die Türen der Klassenzimmer sollten offen stehen für Hospitationen. Und es sollte Zeit und Raum geben für kollegiale Fallbesprechungen und Supervisionen, so wie es sie in anderen sozialen Berufen gibt.
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