Mit einem blauen Auge davongekommen
Emmanuel Macron hat die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewonnen. Wir haben mit drei Experten darüber gesprochen: dem deutsch-französischen Essayisten Jürgen Ritte, dem Schriftsteller Manfred Flügge und unserem Korrespondenten Jürgen König.
Der Wahlsieg von Emmanuel Macron in Franreich hat den deutsch-französische Übersetzer, Literaturkritiker und Essayist Jürgen Ritte optimistisch gestimmt - obwohl momentan noch das Gefühl vorherrsche, "mit einem blauen Auge davongekommen zu sein", so Ritte im Deutschlandfunk Kultur.
"Abgründe an Vulgarität" aufgerissen
Über Marine le Pen sagte Ritte, diese habe "Abgründe an Vulgarität" im Wahlkampf aufgerissen. Trotz aller Kosmetik an der Front National sei sie noch immer die "Erbin ihres Vaters": "Da ist noch sehr viel Schmutz, Dreck und Unappetitliches", betonte der Experte für die deutsch-französischen Beziehungen.
Deutschlandfunk Kultur-Korrespondent Jürgen König analysierte, Macron versuche nun, auch die Wählerinnen und Wähler von le Pen einzubinden. Diese habe aber sofort wieder in den Wahlkampfmodus umgeschaltet. Sie werde den Front National umbauen und daraus eine neue Partei machen - denn sie sehe nun die Chance, viele Republikaner für sich zu gewinnen. Schon im Wahlkampf habe sie den Namen der Partei nicht mehr benutzt, denn dieser sei belastet und stehe für einen Verein alter, nationalistischer und antisemitisch angehauchter Männer, sagte König.
"Blessur" durch die radikale Linke
Laut Ritte hat die französische Gesellschaft auch durch die radikale Linke eine "Blessur" erlitten - indem diese dazu aufgerufen habe, nicht am zweiten Wahlgang teilzunehmen. Hier sei ein Sieg le Pens aus Abneigung gegenüber dem Wirtschaftsliberalen Macron in Kauf genommen worden. "Da werden wir einige Wunden zu lecken haben", sagte der Essayist.
Der Schriftsteller und Übersetzer Manfred Flügge zeigte sich insgesamt optimistischer. Die Franzosen hätten mit der Wahl gezeigt, dass sie ein vernünftiges Volk seien und dass rechtspopulistische Methoden nicht verfingen, sagte er im Deutschlandfunk Kultur.
Macron habe alle überrascht und die Parteien "rechts wie links praktisch aufgelöst". Zudem habe er dafür gesorgt, dass le Pen im ersten Wahlgang keine Mehrheit bekommen habe. "Das ist für mich die eigentliche Leistung."
Macron habe den "Geist der Fünften Republik sehr gut verstanden" und einen Neustart hingelegt, sagte Flügge. Er hoffe nun, dass Macron auch bei den Parlamentswahlen eine Überraschung schaffe. Die Schwächung der etablierten Parteien sei seine Chance. Republikaner und Sozialisten müssten sich jetzt neu erfinden.
Ritte sagte, er schließe sich den Hoffnungen an - "allerdings mit einer gewissen Skepsis". Politische Schwergewichte der etablierten Politik dächten schon darüber nach, wie sie Macron am Regieren hindern könnten. Die anstehende Parlamentswahl werde zur Bewährungsprobe für Macron: "Die alten Parteien sind nicht so tot, wie sie jetzt wirken." Zudem stehe dem neuen Präsidenten ein harter Kampf mit den Gewerkschaften bevor. (ahe)
Das Gespräch mit Manfred Flügge im Wortlaut:
Dieter Kassel: "Studio 9" am Montagmorgen, dem Morgen nach der Stichwahl um das Präsidentenamt in Frankreich, der Wahl, die Emmanuel Macron mit zwei Dritteln der Stimmen am Ende souverän gewonnen hat. Aber damit hat er noch lange nicht alles gewonnen, was es zu gewinnen gibt, zum Beispiel Chancen in der Politik in Zukunft.
Das wird davon abhängen, was genau passiert im Juni bei den Parlamentswahlen und wie sehr Macron nun wirklich auch die Menschen, die ihn nur gewählt haben, weil sie Marine Le Pen nicht wollten, wie sehr er auch die in Zukunft überzeugen kann.
Wie es mit Frankreich nun politisch weitergehen kann, darüber wollen wir mit Manfred Flügge reden. Er ist Schriftsteller und Übersetzer, zuletzt erschien von ihm das E-Book "Brief an einen französischen Freund". Er lebt in Berlin und Paris, und im Moment ist er in Paris, wo er auch das Wahlwochenende verbracht hat. Schönen guten Morgen, Herr Flügge!
Manfred Flügge: Guten Morgen!
Kassel: Ist das, dieses Wahlergebnis von gestern Abend, ist das für Sie jetzt der Anfang eines neuen politischen Zeitalters in Frankreich?
Die Wahl beweist, dass man Frankreich lieben kann
Flügge: Das hoffe ich doch sehr, dass es ein neuer Anfang ist. Zunächst beweist es, dass man Frankreich lieben kann, wie Macron gestern gesagt hat. Frankreich hat gezeigt, dass es ein sehr vernünftiges Volk ist und dass die Methoden von Trump oder Johnson, Brexit-Wahlkampf, hier nicht verfangen. Und das Zweite ist, dass wir mit einem wirklichen Neuanfang rechnen können: Emmanuel Macron hat alle überrascht.
Die Rede ist von der Strategie des Kometen. Er ist wie ein Komet aufgestiegen, hat alle überrascht, hat die Parteien rechts wie links praktisch aufgelöst, hat dafür gesorgt, dass Front National im ersten Wahlgang keine Mehrheit hatte. Das ist für mich die eigentliche Leistung. Wie hätte Frankreich ausgesehen, wenn Frau Le Pen im ersten Wahlgang vorn gelegen hätte? Das hat er verhindert, er allein.
Und er hat eine neue Bewegung geschaffen, so nennt er das ja, "En Marche", also "Auf dem Weg", auf dem Weg in eine Zukunft ohne die traditionellen Parteien, und das heißt, er hat den Geist der Fünften Republik sehr gut verstanden, aber eine Art Neustart hingelegt.
De Gaulle wollte, dass die Wahl des Präsidenten die Begegnung von einem Mann und dem Volk ist, so hat er das formuliert, "Un homme et son peuple", und das ist ihm gelungen, und das muss ihm jetzt in den Parlamentswahlen im Juni erneut gelingen.
Und ich hoffe, dass er auch da eine Überraschung schafft. Gestern in den Fernsehstudios waren mir zu viele Vertreter der alten Parteien und zu wenige seiner neuen Bewegung, seiner Bürgerbewegung eigentlich, die die Partei des Präsidenten wird. Und das ist ein durchaus gaullistisches Vorgehen. Die Gaullisten waren ja auch weder rechts noch links einzuordnen, die historischen Gaullisten. Sie sind dann eine Rechtspartei geworden.
Kassel: Aber klingt das nicht, was Sie jetzt so sagen über Emmanuel Macron, ein bisschen zu optimistisch? Es gibt ja nicht nur den Front National auf der rechten Seite, der ihn natürlich nicht unterstützt, es gibt auch Linke, die ihn nicht unterstützten.
Jean-Luc Mélenchon war der einzige Präsidentschaftskandidat, der vor den Stichwahlen gescheitert ist, der sich nicht so richtig entscheiden konnte, seinen Leuten zu sagen, dann wählt jetzt bitte Macron, damit nicht der Front National gewinnt.
Es gab vereinzelt Proteste in Frankreich nach diesen Wahlen, das waren Proteste Ultralinker, nicht Rechter. Wird es denn Macron gelingen, die Linken sozusagen auch auf seine Seite zu ziehen?
Streiks? Da muss Macron durch
Flügge: Die Partei von Mélenchon, wenn es die dann geben wird, das ist ja auch noch nicht so klar, wird sicherlich die Hauptopposition sein, und dazu die Gewerkschaften. Der Plan von Macron besteht darin, das zu unterlaufen mit seiner Arbeitsrechtsreform, mit der Möglichkeit, dass in jedem Betrieb, gerade in den mittleren und kleinen Betrieben zwischen der Belegschaft und der Betriebsleitung verhandelt werden kann an den Gewerkschaften vorbei.
Das ist eine wichtige Reform. Da wird er sich mit Streiks und Protesten rechnen müssen, aber da muss er durch. Ich hoffe, dass es ihm gelingt.
Jetzt kommt es darauf an, dass er eine eigene parlamentarische Mehrheit hat. Er wird aber möglicherweise eine Koalition bilden müssen, so wie wir das in Deutschland auch kennen. In Frankreich ist das völlig ungewöhnlich.
Auch in der Hinsicht können wir mit einer Erneuerung des Lebens rechnen, und gestern hat er so viel Optimismus und Aufbruchsstimmung verbreitet, ich denke, das wird ihn auch zu den Wahlen tragen und ihm eine eigene Mehrheit geben. Das heißt, wir müssen wirklich mit neuen Strukturen rechnen und mit neuen Gesichtern.
Kassel: Sie haben vorhin auch schon gesagt, Ihnen waren gestern im französischen Fernsehen noch zu viele Vertreter der alten Parteien zu sehen. Was bedeutet das jetzt alles zum Beispiel für die Partie Socialiste und auch für die französischen Republikaner? Sind deren Zeiten wirklich vorbei oder müssen sie sich, wie ja viele Beobachter sagen, jetzt einfach mal neu erfinden?
Flügge: Letzteres. Sie müssen sich wirklich neu erfinden. Das konnte man gestern sehen, die Republikaner waren überhaupt nicht einig. Einzelne versuchten, die Parteifreunde zu bedrohen, die es wagen würden, zu Macron überzulaufen, und andere, wie Dominique Villepin oder andere Leute, haben sich ihm geradezu zu Füßen gelegt und sich angeboten – wird ihnen auch nichts nutzen.
Die Schwächung der Etablierten ist Macrons Chance
Und von der sozialistischen Partei war eigentlich wenig zu sehen. Ségolène Royal war zwar da, aber die hat so getan, als gehörte sie den Sozialisten schon gar nicht mehr an. Also auch die bot ihre Dienste an. Es war überhaupt zu sehen, dass gar keine Opposition da war. Alle Vertreter haben das Ergebnis anerkannt, erkennen den Präsidenten an, erkennen das sehr eindeutige Votum ihrer Landsleute an. Also von daher sind die Voraussetzungen erst mal sehr gut.
Aber man darf eben nicht zu sehr, im Augenblick zumindest, von den alten Strukturen her denken, denn Macron bricht das auf, hat es schon aufgebrochen. Und ich denke, die Schwächung der beiden großen Flügel rechts und links ist die Chance für ihn.
Das ist die Chance auf Reform, die muss er allerdings nutzen. Die beiden vorherigen Präsidenten haben es nicht geschafft, direkt nach ihrer Wahl eine Dynamik zu erzeugen, um Reformen durchzusetzen. Ich hoffe, dass es ihm gelingt. Er weiß, es muss es ihm gelingen.
Kassel: Manfred Flügge, Schriftsteller, lebt und arbeitet in Berlin und Paris und hat in Paris dieses Wahlwochenende miterlebt, das ihn zumindest in ziemlichen Optimismus gebracht hat, in eine optimistische Stimmung. Herr Flügge, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch und wünsche Ihnen einen schönen Montag in Paris.
Flügge: Vielen Dank, auf Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.