Madame Nielsen: "Das Monster"
Aus dem Dänischen von Hannes Langendörfer
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2020
230 Seiten, 20 Euro
Protokoll eines Selbstverlustes
06:26 Minuten
Ein Mann taumelt durch das New York der 90er, hat ritualisierten Sex mit einem Brüderpaar, trifft auf Willem Dafoes Performance-Truppe und überschreitet jede Grenze. Die Multi-Genre-Künstlerin hat mit "Monster" einen verstörenden Roman geschrieben.
Was für ein verstörender Roman. Geht es um eine Performance, die Kunst und Leben in eins setzt? Ein Experiment mit Grenzerfahrungen? Das Protokoll eines kompletten Selbstverlustes durch sexuelle Gewalt, Unterordnung, Wiederholung? "Das Monster" nennt die Multi-Genre-Künstlerin Madame Nielsen ihr Buch, dessen Titel die Leserin ebenso hellhörig machen sollte wie das Schwarzweiß-Foto auf dem Einband. Dort erkennt man eine vermeintlich glückliche amerikanische Familie: Vater, Mutter und Zwillinge, zwei kleine Jungen mit Mützen, Schals, Winterjacken und putzigen Schühchen.
Dieses Bild spielt eine zentrale Rolle, denn nach bizarrem, perfekt ritualisierten, allabendlichen Geschlechtsverkehr mit einem älteren männlichen Brüderpaar namens Bruce und Jerry in rosa und hellblauen Seidenpyjamas, betrachtet der Held dieser Geschichte jeden Morgen beim Frühstück in der Wohnung seiner Gastgeber genau dieses Bild. Das "Monster" scheint genau dieses Doppelgespann zu sein, dem sich die Hauptfigur, ein namenloser junger Mann aus Europa, nach einem ersten Schock wie unter Zwang täglich aussetzt.
Feindselig-gleichgültige Umgangsformen
Der Ort der Handlung? New York, im Winter 1993. Der Anlass für den Aufenthalt ist die Performance-Truppe The Wooster Group von Liz LeCompte und Willem Dafoe. Der junge, schöne Mann ist ungebeten und komplett abgebrannt hinzugestoßen und muss erst einmal monatelang zuschauen. Weil er außer einer Liste mit Telefonnummern nichts in seinen Taschen hat, ruft er nach einer durchwachten Nacht bei einer der Nummern an, wird um Mitternacht zur 25th West bestellt und landet bei Bruce und Jerry.
Dies ist die Konstellation von "Das Monster", in dem Madame Nielsen zumindest Teile ihrer eigenen Biografie verarbeitet, denn sie gehörte in den 1990er Jahren tatsächlich zu der berühmten postdramatischen New Yorker Theatergruppe, die mit ihren Text-Dekonstruktionen und Schichtungen verschiedener medialer Formen international Furore machte. Der Protagonist, der von außen in der dritten Person den Blick genommen wird, ist gleichermaßen hartnäckig und passiv – weder lässt er sich von den feindselig-gleichgültigen Umgangsformen der Performer abschrecken, noch kann er sich dem Sex-Ritual der Zwillinge entziehen.
Der Körper selbst als Schauplatz
Er taumelt durch Manhattan, beginnt eine Affäre mit einer der Frauen der Wooster Group, kauft sich Andy Warhols Tagebücher, dessen Filme bei den monströsen Zwillingen in Dauerschleife laufen. Jeden Tag lernt er eine Passage auswendig und parallelisiert seine Existenz mit Praktiken in Mönchsorden. Der sprachlich eher lapidar daherkommende Roman hat deshalb einen bedrängenden Effekt, weil die Hauptfigur kein klar umrissenes Subjekt mehr zu sein scheint. Der junge Mann wird nicht nur als Person Teil einer Performance, sein Körper selbst ist Schauplatz des Ganzen.
Auch diese letzte Grenze muss im buchstäblichen Sinne perforiert werden. Zeugin dieser Art von Selbstextremismus zu werden, ist nicht nur angenehm. Politische oder gesellschaftliche Fragen können gar nicht mehr formuliert, sondern nur noch körperpolitisch inszeniert werden. Dies abzubilden, gelingt Madame Nielsen.