Michael Madeja, Joachim Müller-Jung (Hrsg.): Hirnforschung. Was kann sie wirklich? Erfolge, Möglichkeiten und Grenzen.
Verlag C. H. Beck, München 2016.
240 Seiten, 19,95 Euro
Was kommt nach der Ernüchterung?
Auf die Neuro-Euphorie folgte der Neuro-Kater. Denn nur wenige ihrer ambitionierten Ansagen konnte die Hirnforschung bisher wirklich einlösen. Der Band "Hirnforschung. Was kann sie wirklich?" zieht eine anschauliche und facettenreiche Zwischenbilanz.
Es ist noch nicht lange her, da galten Neurowissenschaftler als Experten für alles: Der Blick ins Gehirn sollte verraten, wie Menschen besser lernen und mehr leisten können, welche Talente oder Gefahren in ihnen schlummern. "Neuro" war in! Doch seit längerem schon herrscht Katerstimmung. Den ambitionierten Ansagen folgte Ernüchterung.
Es ist ein günstiger Zeitpunkt, sachlich Bilanz zu ziehen. Was haben die Neurowissenschaften erreicht, zwölf Jahre nachdem führende deutsche Hirnforscher in einem "Manifest" ein neues, naturwissenschaftlich fundiertes Menschenbild in Aussicht stellten und einen Quantensprung für die Behandlung von psychischen Störungen ankündigten, fragen dann auch Michael Madeja und Joachim Müller-Jung in ihrem neuen Buch.
Hirn erforschen für Behandlung aggressiver Straftäter
Achtzehn Forscherinnen und Forscher stehen ihnen dabei Rede und Antwort, fassen ihre Erkenntnisse zusammen und skizzieren mögliche Anwendungen. Dabei geht es nicht um steile Thesen über das Ende des freien Willens, sondern um konkrete Forschungsergebnisse und ihr Potenzial für Suchtmedizin oder Psychotherapie, für die Behandlung aggressiver Straftäter, die Steuerung von Handprothesen oder die Entwicklung neuer Unterrichtskonzepte.
Besonders auffällig: Die interessanten Fragen werfen diesmal Wissenschaftler auf, die bisher weniger im Rampenlicht standen. Der Gedächtnisforscher Jan Born etwa. Er glaubt, dass die Stimulation von Hirnwellen im Schlaf künftig Lernleistungen steigern und andererseits Sucht- oder Trauma-Patienten helfen kann. Der Verhaltensexperte Niels Birbaumer untersuchte, wie psychopathische Strafgefangene Einfluss auf ihre Hirnaktivität nehmen und ihre Selbstkontrolle trainieren können – nach ersten Ergebnissen eine viel versprechende Ergänzung zu Antiaggressionstrainings.
Sanfte Therapieformen weichen Medikamenten
Auch die einstigen Wortführer des Neurobooms beanspruchen für die Hirnforschung keine Deutungshoheit mehr. Ohne die enge Zusammenarbeit mit Psychologen, Psychiatern und Therapeuten komme sein Fach nicht weiter, schreibt der Neurobiologe Gerhard Roth. Der Sammelband benennt auch Grenzen der Erkenntnis. Zwar könne man zeigen, wie unsere Sprachentwicklung mit der Reifung des Gehirns zusammenhängt, bemerkt Angela D. Friederici. Aber bei der Entstehung von Wortbedeutungen sei die Hirnforschung mit ihrem Latein am Ende. Dort beginne die Domäne von Literatur und Poetik.
Das letzte Wort haben drei Vertreter benachbarter Disziplinen. Gerd Scobel betont, dass die Hirnforschung der Philosophie bedarf, um ihre Voraussetzungen und Methoden zu hinterfragen. Er kritisiert eine Nachwirkung des Neuro-Booms: Da psychische Probleme verstärkt mit Medikamenten behandelt werden, geraten sanftere Therapieformen in die Defensive. Auch die Psychoanalytikerin Marianne Leuzinger-Bohleber warnt vor "Heilserwartungen" an die Hirnforschung. Dem Soziologen Armin Nassehi erscheint das Gehirn ebenso komplex und unberechenbar wie die Gesellschaft. Daher plädiert er dafür, auch in den Naturwissenschaften vom menschlichen Geist die Relativität jeder Beobachterposition anzuerkennen. Ein Appell, den dieser so anschauliche wie facettenreiche Band vorbildlich einlöst.