Mädchen und Dschihad

Der Traum vom weißen Ritter

Verschleierte Frauen bei einer Kundgebung des Salafisten-Predigers Pierre Vogel in Pforzheim (2014).
Verschleierte Frauen bei einer Kundgebung des Salafisten-Predigers Pierre Vogel in Pforzheim (2014). © Uli Deck, dpa picture-alliance
André Taubert im Gespräch mit Ute Welty |
Die Radikalisierung von Mädchen durch dschihadistische Salafisten verläuft im Grunde nach dem gleichen Muster wie bei Jungen, meint der Religionspädagoge André Taubert. Aber bei Mädchen kommt noch das romantische Bild vom perfekten Mann dazu.
Dass auch Mädchen und junge Frauen aus Westeuropa Salafistinnen werden und sich dem IS anschließen, daran hat man sich inzwischen gewöhnt. Nicht aber daran, dass ein 15-jähriges Mädchen einen Polizisten mit einem Messer attackiert und ihn lebensgefährlich verletzt.
"Die letzte Konsequenz einer Radikalisierung, nämlich eine Gewalttat zu verüben, die traut man natürlich dem Mädchen erstmal nicht so zu", sagt der Religionspädagoge André Taubert, Leiter der Beratungsstelle "Legato" in Hamburg. "Aber wir sehen ja, dass das auch passieren kann. Ich glaube, es wird der seltenere Fall bleiben."

Gesucht: der "perfekte Mann"

Die Radikalisierungsprozesse von Jungen und Mädchen verlaufen Tauber zufolge im Prinzip sehr ähnlich: "Es geht ganz viel um Isolationsprozesse von jungen Menschen, von Jugendlichen. Das heißt, die entfernen sich, die isolieren sich von der Gesellschaft und ganz konkret von der Familie, von Freunden und begeben sich in einer Situation, in der sie das Gefühl haben, sie stehen vollkommen alleine da."
Bei Mädchen komme manchmal jedoch ein romantisches Bild vom "weißen Ritter" dazu, vom "wahren, echten Muslim" und "perfekten Mann", so Taubert. "Weil sie immer mehr in ihrer Verzweiflung an etwas glauben wollen, nämlich dass ihnen mindestens im Paradies, aber vielleicht auch hier jemand begegnet, der im Grunde alle menschlichen Fehler überwinden kann und der perfekt ist."

Das Interview im Wortlaut:
Ute Welty: 15-Jährige sollen sich um die Schule kümmern, sich für Mode und Musik interessieren und sich vielleicht zum ersten Mal verlieben. Keinesfalls aber sollten 15-Jährige einem Polizisten ein Messer in den Hals rammen. So ist es aber in Hannover geschehen. Und offenbar steht dahinter, dass sich die Deutschmarokkanerin radikalisiert hat.
Davon geht zumindest die Bundesanwaltschaft aus und sie hat beim zuständigen Ermittlungsrichter einen Haftbefehl erwirkt wegen versuchten Mordes, gefährlicher Körperverletzung und Unterstützung einer ausländischen terroristischen Vereinigung. Derzeit sitzt die 15-Jährige in Untersuchungshaft. Der Religionspädagoge André Taubert ist mit Fällen wie diesem vertraut. Er leitet in Hamburg die Fachstelle für religiös begründete Radikalisierung und er berät besorgte Familienangehörige. Guten Morgen, Herr Taubert!
André Taubert: Guten Morgen!
Welty: Wenn man von diesem Fall, von dieser Geschichte hört, dann will man sie ja zunächst gar nicht glauben, so absurd erscheint sie. Wie oft mussten Sie sich schon über solche Geschichten wundern?
Taubert: Es ist ein Stück weit wirklich täglich Brot in unserer Arbeit. Das heißt, auch der Fall in Hannover hat mich nicht sehr gewundert, sondern im Grunde genommen ist es eine Konstellation … ich will nicht sagen: mit der wir gerechnet haben, aber von der wir immer ausgehen, dass sie passieren kann.

Isolationsprozesse von Familie, Freunden und Gesellschaft

Welty: Lässt sich ausmachen, wie eine solche Radikalisierung typischerweise verläuft?
Taubert: Ja, das ist nämlich in gewisser Weise sehr individuell, also auf einer Seite sehr individuell, und auf der anderen Seite aber doch immer sehr ähnlich. Das heißt, es geht ganz viel um Isolationsprozesse von jungen Menschen, von Jugendlichen. Das heißt, die entfernen sich, die isolieren sich von der Gesellschaft und ganz konkret von Familie, von Freunden und begeben sich in so eine Situation, in der sie das Gefühl haben, sie stehen vollkommen alleine da.
Und ich bin häufiger der Meinung, dass wir da auch Jugendliche sehen, die vielleicht an anderer Stelle, wenn sie nicht den Weg der Radikalisierung gegangen wären und vielleicht auch IS-nah dann werden von der Idee her, dass sie stattdessen vielleicht auch Suizidgedanken gehabt hätten oder eventuell auch Suizid begangen hätten.

Wunsch nach einer perfekten Welt

Welty: Inwieweit besteht ein Unterschied, ob sich eine junge Frau oder ein junger Mann radikalisiert?
Taubert: Ja, die Unterschiede sind zum Teil da, dass Mädchen, ja, manchmal einem romantischen Bild von einem, ich sage mal: der weiße Ritter, der wahre, echte Muslim, der perfekte Mann hinterherlaufen. Und weil sie immer mehr in ihrer Verzweiflung an etwas glauben wollen, nämlich dass ihnen mindestens im Paradies, aber vielleicht auch hier jemand begegnet, der im Grunde alle menschlichen Fehler überwinden kann und der perfekt ist. Das ist bei den Jungs und bei den Männern zum Teil natürlich auch so, aber da geht es dann natürlich nicht unbedingt um diesen Mann. Aber sozusagen die Idee einer perfekten Welt mit perfekten Menschen, die ist bei allen eigentlich ganz ähnlich und ganz gleich.
Welty: Unser Erschrecken ist aber, wenn es sich um junge Mädchen, junge Frauen handelt, größer als bei den jungen Männern. Warum trauen wir den jungen Männern eine solche Radikalisierung eher zu – ich drücke es mal so aus – als den Frauen und Mädchen?
Taubert: Ja, ich glaube, dass wir … Also, zumindest meine Sicht auf die Dinge ist gar nicht, dass die Radikalisierung nicht in beiden Fällen möglich ist. Nur, diese letzte Konsequenz einer Radikalisierung, nämlich eine Gewalttat zu verüben, die traut man natürlich den Mädchen erst mal nicht so zu. Aber wir sehen ja, dass das auch passieren kann. Ich glaube, es wird der seltenere Fall bleiben, und ich glaube auch – und an der Stelle, das ist mir auch ganz wichtig –, man muss auch immer den Vergleich ziehen zu Amokläufen, wie sie auch ansonsten in unserer Gesellschaft passieren, und auch sagen: Wäre dieses Mädchen vielleicht nicht auch ohne den IS an irgendeiner Stelle in irgendeiner Weise Amok gelaufen?

Betroffene Eltern sollen Beratungsstellen aufsuchen

Welty: Die Mutter jener 15-Jährigen aus Hannover ist ihrer Tochter nachgereist und hat gerade noch verhindern können, dass sie die Grenze nach Syrien überquert. Wie können Eltern überhaupt damit fertig werden, dass ihnen ihr Kind derart entgleitet?
Taubert: Zunächst mal Beratungsstellen, Beratungsstellen anrufen, sich dort melden – die gibt es mittlerweile flächendeckend auch in Hannover, in allen Bundesländern – und sich dort Hilfe holen. Das funktioniert ganz gut, wir sind da ganz erfolgreich. Das ist sehr einzelfallabhängig, was man dann tun kann. Aber grundsätzlich geht es darum, diese Isolationsprozesse, von denen ich anfangs auch schon sprach, zu stoppen. Dass Eltern verstehen: Das, was mein Kind da tut, ist sich immer weiter von der Gesellschaft entfernen, und ich muss sehen, dass ich mein Kind irgendwie einfange. Und das vielleicht mit unorthodoxen Mitteln, also mit Mitteln, die mir sonst vielleicht gar nicht einfallen. Und da ist einfach Beratung von anderer Seite, von dritter Seite, eben möglichst von so Beratungsstellen ganz, ganz hilfreich.

Warnsignal: abrupter Wechsel des Freundeskreises

Welty: Welche Warnhinweise gibt es, dass es erst gar nicht so weit kommt? Und vor allem, was ist die richtige Reaktion darauf?
Taubert: Die Warnhinweise, auch wieder die Isolationsprozesse. Das heißt Wechsel des Freundeskreises, und zwar sehr rasant, immer eine sehr konfrontative Haltung, immer wieder auch Fokussierung auf das Thema Religion und dabei immer auch sozusagen im Streit endend und in der Diskussion endend. Religion soll ja eigentlich verbinden und nicht die Leute entzweien. Wenn man das wahrnimmt, dann sollte man einfach auch schon handeln und was tun. Das heißt ja nicht, dass man die Polizei anruft, sondern das heißt, dass man sich Hilfe holt, um zu gucken, wie können wir diese Entzweiung durchbrechen.
Welty: Wie kann man wieder miteinander ins Gespräch kommen.
Taubert: So ist es.
Welty: Religionspädagoge André Taubert will verhindern, dass sich Menschen radikalisieren. Für diese Aufgabe viel Erfolg und herzlichen Dank für dieses "Studio 9"-Gespräch!
Taubert: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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