Männer als "Deppen und Versager"

Moderation: Jürgen König |
Männer besetzen zwar noch immer die zentralen Machtpositionen in der Gesellschaft. Aber nach Ansicht von Walter Holstein ist es falsch, Männer als das herrschende Geschlecht darzustellen. Die Rolle als Mann habe sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert, ein neues positives Männerbild fehle jedoch, sagte Holstein.
Jürgen König: Das "starke Geschlecht" steckt in der Krise, meint Walter Holstein vom Institut für Geschlechter- und Generationenforschung der Universität Bremen. Guten Morgen, Herr Holstein.

Walter Holstein: Guten Morgen.

König: Wenn man so grob hinschaut und sieht, dass die wichtigsten Positionen in unserer Gesellschaft mehrheitlich, und zwar doch bei weitem mehrheitlich, immer noch von Männern besetzt werden, wenn man sieht, dass Männer im Durchschnitt immer noch mehr verdienen als Frauen, dann könnte man doch durchaus noch auf den Gedanken kommen, Männer seien nach wie vor das "starke Geschlecht", oder?

Holstein: Für eine kleine Gruppierung stimmt das sicher, wobei man auch da dann noch mal genauer hinschauen muss. Aber ich denke, der Denkfehler auch des Feminismus' ist halt, dass so die männliche Machtelite dann immer gleichgesetzt wird mit allen Männern. Und das stimmt einfach nicht. Also die meisten Männer sind ja auch in abhängigen Positionen und werden von anderen Männern beherrscht. Also Männer generell jetzt als das herrschende Geschlecht darzustellen, das stimmt heute einfach nicht mehr.

König: Also das heißt, es gibt eine kleine Gruppe von Männern, für die sich im Grunde genommen nichts verändert hat, aber eine große – was hat sich für sie objektiv verändert in den letzten Jahren?

Holstein: Na hauptsächlich hat sich natürlich so das Selbstbild verändert und die Bedingungen, auf denen dieses Selbstbild beruht hat. Also Goethe konnte ja noch so vor rund 200 Jahren sagen: "Welch Glück ohnegleichen ein Mannsbild zu sein". Ich glaube, das würde heute wahrscheinlich niemandem mehr einfallen.

König: Weil die die Goethe-Stelle nicht kennen.

Holstein: Ja, auch sonst nicht. Zunächst mal ist es natürlich so, dass Männer also vielleicht bis in die späten 60er Jahre noch weitgehend dominant waren. Es hat ja auch noch bis in die 70er Jahre so eine seltsame Rechtsprechung gegeben, dass eigentlich Frauen, die erwerbstätig sein wollten, ihre Männer hätten fragen müssen - also zumindest stand das, glaube ich, bis 76 oder 78 noch im Gesetz; de facto wird das wahrscheinlich niemand gemacht haben. Aber seither hat es natürlich sehr, sehr starke Umbrüche gegeben. Also die Frauenrolle hat sich wesentlich erweitert, also vor allen Dingen um den Teil der Erwerbstätigkeit, der Welteroberung, des Durchsetzungsvermögens. Ich glaube, so die Tragik und die Problematik ist, dass sich für Männer vieles verändert hat, aber die Männerrolle, die traditionelle Männerrolle eigentlich gleich geblieben ist.

König: Was uns die Statistiker mitteilen, gehört vermutlich auch in ihr Bild, also dass in deutschen Schulen Mädchen erfolgreicher seien als Jungen, dass es in deutschen Großstädten inzwischen mehr Frauen in sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen gibt als Männer, auch die Selbstmordrate, liest man, sei unter Männern höher – ich weiß nicht, drei- oder viermal höher als bei …

Holstein: Fast viermal höher. Und bei männlichen Jugendlichen, so in der Pubertät, gibt es Zahlen, dass es acht- bis zehnmal höher ist als die von Mädchen.

König: Sprechen wir kurz zwischendurch über die Rolle des Vaters. Es gibt ja in der Kulturkritik diesen Satz, die Rolle des Vaters habe in den letzten fünf Jahrzehnten systematisch nur abgenommen. Was ist noch übrig geblieben?

Holstein: Ja übrig geblieben ist eigentlich nicht mehr furchtbar viel. Also früher war Vater ja irgendwie verbunden so mit Autorität. Vater hatte die Aufgabe, den Kindern die Welt zu zeigen und die Welt zu erklären. Und so speziell also durch die Kritik des Radikal-Feminismus' ist das ja alles mächtig reduziert und diffamiert worden. Es gibt ja nach wie vor auch so dieses grausame Wort, dass Männer oder Väter eigentlich nicht mehr seien als Samenspender.

König: Reden wir mal von dem Bild, dass man sich vom Mann macht, das die Männer auch selber von sich machen. Vielleicht fangen wir mit der Öffentlichkeit an. Was für ein neues Bild vom Mann gibt es in der Öffentlichkeit?

Holstein: Es gibt kein neues Bild, was jetzt positiv wäre. Also wenn man so, und das ist ja hier auch noch nicht so ein Thema wie zum Beispiel in den USA oder in England oder auch in den skandinavischen Ländern, also wenn man so in die populären Erscheinungsformen von Massenmedien guckt, die Soap Operas oder auch die Werbung, dann ist eigentlich heute auffällig, dass Männer immer mehr so als Versager und als Trottel und als lächerliche Typen dargestellt werden. Also nicht mehr als jemand, der ernst zu nehmen ist. Und das ist sicher fatal. Ich meine, das mag so auf den ersten Blick vielleicht lustig sein. Aber wenn man sich dann überlegt, dass wir als Menschen - also nicht nur als Männer, natürlich auch als Frauen - ja Identifikationsfiguren brauchen, um überhaupt uns selbst auch zu definieren und unseren Platz in der Welt, ist es natürlich speziell für heranwachsende Jugendliche mächtig problematisch, wenn Männer einfach nur als Deppen und als Versager dargestellt werden.

König: Was folgt aus dem Gesagten für männliche Jugendliche? Mit was für einem Bild von Mann wachsen sie auf? Wie kann man in diesen, in einer solchen Situation eine eigene männliche Identität überhaupt noch ausbilden?

Holstein: Ja, das ist eben das Problem. Und wir wissen halt auch aus Amerika, dass zum Beispiel die zunehmende Gewalt unter jungen Männern - also ich meine die Gewalt nimmt ja auch ein bisschen bei Mädchen zu, aber in gar keinem Vergleich jetzt: Jugendgewalt ist nach wie vor zu über 90 Prozent Jungen-Gewalt und Gewalt von jungen Männern -, dass das halt häufig einfach auch so ein ganz hilfloser Impuls ist, weil man sich an nichts mehr verbindlich orientieren und abarbeiten kann. Also es fehlen eben auch die männlichen Vorbilder, mit denen man sich auseinandersetzen könnte, um praktisch zu erfahren, was ist eigentlich Männlichkeit und was bin ich als Mann und was bin ich als Mann auch wert.

König: Das heißt, die jungen Männer haben keine väterlichen Vorbilder mehr und suchen sich Ersatz in den Helden ihrer Videos, Gewaltspiele, Killerspiele?

Holstein: Ja. Und versuchen einfach auch eben, in so einer ungezielten und zum Teil ja nun auch ganz, ganz fürchterlichen Gewalt sich auszuprobieren, weil es eben keine sinnvollen Formen mehr von Initiation und so weiter gibt.

König: So gesehen wäre der junge Mann, der jetzt in Emsdetten Amok gelaufen ist, ein ganz typischer Vertreter unserer Zeit?

Holstein: Im Extremfall, natürlich. Also ich meine, das ist ja jetzt auch, wenn so was passiert ist wie in Erfurt oder in Emsdetten, wird das natürlich dann auch hochstilisiert und lange diskutiert. Aber in verkleinerter Form passieren solche Sachen ja jeden Tag.

König: Sie haben es vorhin angedeutet, die Sozialisation von Mädchen hat sich im Lauf der letzten Jahrzehnte sehr verändert. Kann man auch den Schluss ziehen: die der Jungen nicht wesentlich?

Holstein: Die der Jungen nicht wesentlich. Also was ich vorhin schon sagte, das Problem ist halt, dass sich die weibliche Rolle sehr stark erweitert hat. Also Frauen dürfen heute weiblich sein, aber sie dürfen auch das leben, was in der Öffentlichkeit so als männliche Eigenschaft etikettiert wird: Wir haben eine Bundeskanzlerin, wir haben eine Präsidentin im Bundeskriminalamt und so weiter und so fort. Also das ist heute überhaupt kein Problem mehr oder kein Tabu mehr. Vor 10, 15 Jahren wäre das undenkbar gewesen. Aber Männer haben nicht die gleichen Möglichkeiten. Also die männliche Rolle ist eigentlich immer noch so festgelegt auf Leistung und Erfolg und Pokerface und Konkurrenz und wenn "mann" da ausschert, ist er ein Außenseiter. Ich erlebe auch immer wieder so, wenn ein Mann gefragt wird: "Ja was machen Sie eigentlich?", und der sagt dann, weil er jetzt auch gerade seine Kinder erzieht: "Ja, ich bin Vater", dann kommt garantiert die Nachfrage: "Ja und was machen Sie wirklich?" Also so was wird nach wie vor bei Männern nicht ernst genommen, während wenn eine Frau sagt: "Ich bin Mutter", ist das gesellschaftlich ebenso akzeptiert, wie wenn sie sagt: "Ich bin Bundeskanzlerin".

König: Das Selbstbild der Männer bröckelt; der Rechtsradikalismus hat Zulauf in Deutschland – besteht da ein Zusammenhang?

Holstein: Ja sicher. Das ist ja auch belegt. Mich wundert immer nur, dass die Politik das nicht zur Kenntnis nimmt. Also schon in dem späten 70er Jahr hat es im Auftrag der damaligen SPD/FDP-Bundesregierung eine große Studie über Rechtsextremismus gegeben, so genannte Sinus-Studie. Da ist ganz klar herausgearbeitet worden, also rechtsextreme Männer kompensieren im Rechtsextremismus eben eine verstörte, eine brüchige Männlichkeit und das ist durch die Gießen-Tests und durch alle möglichen anderen Studien, durch Heitmeyer und so, auch immer wieder belegt worden. Nur …

König: … es tut sich nichts.

Holstein: … kein einziges Programm gegen Rechts hat das je zur Kenntnis genommen. Und es ist auch irgendwie nicht verwunderlich. Ich meine, dieses Ministerium mit diesem furchtbar schrecklichen Namen – "Frauen, Familien, Senioren und Jugend" -, da kommt ja "Männer" nicht vor, und die Bedürfnisse von Männern und Jungen werden einfach halt von dem, was als Frauenpolitik in Deutschland exerziert wird, auch überhaupt nicht zur Kenntnis genommen.

König: Was tun? Eine Männerbewegung gründen?

Holstein: Na ja, es gibt ja so was wie eine Männerbewegung. Also es gibt ja in jeder Stadt von der autonomen Männerbewegung, Beratungszentrum oder ironisch genannt das so genannte Männerbüro. Es gibt Männergruppen, es gibt eine Männerzeitschrift und so weiter und so fort. Was eben wichtig wäre, wäre, dass das auch unterstützt wird, also dass das halt ebenso unterstützt wird wie Initiativen und Projekte der Frauenbewegung.

König: Und dass es auch wirklich zu einer großen Öffentlichkeit führt.

Holstein: Dass es zumindest in der Öffentlichkeit als Problem mal anerkannt wird.

König: Das starke Geschlecht steckt in der Krise. Ein Gespräch mit Walter Holstein vom Institut für Geschlechter- und Generationenforschung an der Universität Bremen. Herr Holstein, vielen Dank.

Holstein: Ja, bitte schön.