Männerchöre vor dem Aus

Das Ende vom Lied

Mann mit einem Gesangsbuch in der Hand, umrahmt von zwei Kerzen
Männer singen immer seltener in Chören © imago/Gustavo Alabiso
Von Uschi Götz |
Trotz jahrhundertealter Tradition: Die Männerchöre in Deutschland sterben aus. Zum Jahresende hört nun einer der bekanntesten Chöre Süddeutschlands auf, der Männerchor Aichschieß. Damit endet auch eine klangvolle Geschichte über das süddeutsche Chorwesen.
Jahrhundertwende. Ein kleines Dorf im schwäbischen Schurwald. Aichschieß. 250 Seelen, vier Wirtshäuser. Im Dorf lebt man von der Land- und Waldwirtschaft. Das Leben ist karg, es gibt noch keine Elektrizität, auch keine Wasserleitungen.
Am letzten Maisonntag im Jahr 1902 kehren die Aichschießer Feuerwehrleute von einem Ausflug zurück. Im Lamm trinken sie Most und feiern ausgelassen. Es steht geschrieben: "Hier beschlossen die wackeren Mannen einen Gesangverein zu gründen".
Sieben Aichschießer Feuerwehrmänner gründen den Gesangsverein Eintracht.
Der Chor wächst. Immer mehr Männer schließen sich an. Historiker und Silcher- Experte Rudolf Veit:
"Gerade auf dem Land war das Mitwirken in einem Sängerchor eine der wenigen Möglichkeiten sich kulturell zu betätigen. Die Chöre waren auf dem Land auch deshalb wichtig, weil sie durch ihre Auftritte das öffentliche Leben feierlich mitgestaltet haben. Also zum Beispiel bei Hochzeiten, bei Beerdigungen, bei Taufen, bei Geburtstagen, aber auch bei Ortsfeiern oder Nationalfeiern, die veranstaltet wurden."
Der Erste Weltkrieg kam und 53 Männer aus Aichschieß zogen in den Krieg, 14 von ihnen sollten nicht mehr zurückkehren. Auch im Chor fehlten einige Männer. Der Postbote Schefenacker übernahm die Leitung, der Hauptlehrer die Probearbeiten.
Die Männer sind erfolgreich, ihr Gesang wird regelmäßig auf Sängerfesten in den 1920er-Jahren gekürt. Die Sänger kaufen im rund 30 Kilometer entfernten Stuttgart ein Klavier. Eine Tagesreise, das Klavier wird mit einem Pferdewagen hinauf in den Schurwald transportiert.
Die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg brachten gute Ernten im schwäbischen Schurwald. Zeit zum Durchatmen. Doch bald mehrten sich die Zeichen der beginnenden Inflation. Am Ende verfiel das Sparguthaben der kleinen Leute. Die Menschen waren verzweifelt.
Rudolf Veit: "Im Deutschen Mehrchorwesen zeichnet sich schon Ende der 20er-Jahre ein Hang zum stärkeren Nationalismus ab. Das ist ein Trend, der aber in der ganzen Gesellschaft zumindest in bestimmten Kreisen der Gesellschaft, bürgerlichen Kreisen auch, sich sehr stark abzeichnet. Deutschland war in einer schweren Krise, die Idee, diese Krise zu überwinden, indem man an das national Gefühl appelliert, diese Idee hat auch im deutschen Männerchorwesen eine wichtige Rolle gespielt."
Auch in Aichschieß. Die Fahnenweihe 1922 geht als unvergessliches Fest in die Chronik ein. Auf welcher Seite stand der Aichschießer Chor während der Zeit des Nationalsozialismus?
Protokollbuch des Chores gibt Aufschluss über NS-Zeit
Die Vereinsvorstände Horst Seifert und Albrecht Kromer blättern in einem alten Protokollbuch. Viel über das Vereinsleben findet sich in dem mit akribischer Schrift verfassten Buch. Von Ausflügen wird erzählt, auch was und vor allem wem der Chor gesungen hat:
Kromer, Seifert: "Das ist ein Protokollbuch… da müssen wir gucken … wann das anfängt … Mitgliedsliste kommt da zuerst ... also das fängt an: Jahrgang 1935."
Horst Seifert hat das in Leder gebundene Buch vor sich auf dem Wohnzimmertisch liegen. Alles ist in deutscher Schrift verfasst, was das flüssige Lesen erschwert:
"Am Freitag, dem 11.01.1935 brachten die Sänger unserem Ehrenmitglied August Schefenacker zu seinem 50. Geburtstag ein Ständchen, welches ihn hoch erfreute. Vorgetragen wurde der Chor, also das Lied: 'Heilig, heilig' und 'Freiheit die ich meine'."
Die beiden Männer blättern weiter, stoßen zum ersten Mal auf Inhalte, die zu einer längeren Diskussion führen. So steht von einem Ausflug geschrieben:
Seifert: "'An einem schönen Julisonntag früh um vier Uhr morgens ging es los mit zwei Omnibussen, die Sänger mit Angehörigen, den Ausflug zu machen. Von Aichschieß ab in Richtung Plochingen, in Kirchheim auf die Autobahn. … Fuhren dann bis Kempten, da machten wir eine halbe Stunde Halt, bei gutem Bier und Vesper'."
Der Ausflug ging weiter, Horst Seifert stockt etwas.
"'Dann ging es wieder los, über den Adolf-Hitler-Pass nach Füssen. Um 12 Uhr sind wir in Neuschwanstein angekommen, wo wir gleich das Mittagessen bekommen haben. Nach dem Essen besichtigten wir das Schloss, dann, um 3 Uhr wieder ab nach Landsberg am Lech, wo wir die Adolf Hitler-Zelle besuchten. Von Landsberg fuhren wir nach Augsburg, wo das bayerische Bier gut mundete. Jetzt aber ging es voll der Heimat zu, um 12 Uhr waren wir dann daheim'."
Waren die Sänger freiwillig in Landesberg? Hätten sie auch irgendwo anders hinfahren können? Die Chor-Nachfahren sind sich nicht einig. Wie stark war der Aichschießer Chor, seine Sänger, von nationalsozialistischen Gedanken geprägt. Im Protokollbuch finden sich keine eindeutigen Aussagen. Seifert blättert weiter im Buch.
Ein paar Wochen nach dem Chorausflug bricht der 2. Weltkrieg aus.
Seifert: "Singstundenbeginn am 19.10.1939. Und da schreibt der: 'Da infolge des Krieges die Sängerzahl stark abgenommen hatte, können wir nur mit Mühe und wenigen Sängern die Singstunde besuchen. Wir üben und wenn der Krieg zu Ende ist, wir unseren Sängerkameraden auch einige neue Lieder singen können'."
Der Krieg war lange nicht zu Ende. Und als er zu Ende war, fehlten viele Stimmen. Nicht nur dem Chor. Durch den Zustrom von Vertriebenen wuchs Aichschieß allerdings schnell. Historiker Veit:
"Obwohl nach 1945 die Freude am Singen immer noch groß war, hat es zunächst erst einmal an den entsprechenden Personen gefehlt, die in den Vereinen hätten singen können oder die Vereine hätten leiten können. Trotzdem ist das deutsche Gesangswesen, das Laienchorwesen auch nach dem Krieg wieder ziemlich stark geworden."
30er-Jahre: Singen für etwas zu essen
Die Aichschießer wollten weitermachen. Eigens für die Singstunde holten sie auf dem Motorrad einen Dirigenten aus dem nahen Esslingen ab und brachten ihn auch wieder zurück. Dann kam der junge Gotthilf Fischer. Ein charismatischer, energiegeladener Dirigent, der bis heute als Deutschlands populärster Chordirigent gilt. Der 1928 geborene Fischer erinnert sich:
"Da war Aufbruch, die wollten leben, die wollten essen, wir sind nachts von Haus zu Haus gezogen und haben Ständchen gesungen, dass wir was zu essen bekamen."
Von der Frau Bürgermeisterin, so Gotthilf Fischer, gab es Naturalien, auch alle die Bauern waren spendierfreudig.
"Wir haben für das Singen, ohne dass wir es wollten, gebettelt."
Fischer ließ die Männer singen, und sie sangen gerne, gab es sonst doch wenig Grund zur Freude. Die Zeit des Nationalsozialismus wollte man hinter sich lassen, erzählt Fischer. Gesungen wurde, was der Dirigent vorschlug. Fischer selbst hatte schon während des Krieges nach eigenen Angaben mit Verboten zu kämpfen.
"Ich wurde dreimal verwarnt im Dritten Reich, ich war ja im Internat von 43 bis 45, weil ich Lieder gesungen habe, die Juden geschrieben (haben). Das wusste ich doch nicht! War mir doch völlig egal. 'Wer hat dich du schöner Wald', Mendelssohn Bartholdy, und das habe ich gesungen, weil die Chöre schön waren, die Texte wunderbar … und die durfte ich nicht mehr singen, weil der Onkel Adolf etwa dagegen hatte, aber ich habe es trotzdem gesungen."
Gotthilf Fischer dirigierte bereits in den 1950er-Jahren große Chöre mit über 100 Sängern. Der Aischießer Männerchor war mit 40 Männern richtig klein.
"(Da) hat alles gesagt, wie kann der mit so riesen Chören, so einen kleinen Chor übernehmen. Und der ist mir ans Herz gewachsen. Das waren Männer, die waren gerade noch im Wald und der Totengräber hat gerade noch geschafft. Und dann sind alle, wie sie waren, gekommen. Und dann hat man gesungen miteinander. Und sie hatten eine wunderbare Stimme."
Fischer knüpft Kontakte nach Österreich. Erstmals nach dem Krieg kommen viele Männer wieder hinaus in die Welt, jetzt in friedlicher Mission. Der Chor macht seinen ersten Ausflug:
"Da hat man ein Jahr gespart. Und heute wissen die Leute den Abend vorher überhaupt nicht, ob sie morgen mitgehen zum Ausflug. Und damals hat man ein Jahr darauf gespart. Immer eine Mark einbezahlt oder 50 Pfennig und dann hatte man das Geld zusammen, diese Reise zu tun."
War es eine bessere Zeit? Der weitgereiste Dirigent Gotthilf Fischer denkt lange nach.
"Viel viel tiefer, ernster … freundlicher, dankbarer, dass der Krieg aus ist. Von dem haben wir überhaupt nichts mehr gesprochen. Wir haben immer wieder gesungen, bis einer kam aus der Gefangenschaft, hat man sich am Rathaus getroffen und hat ihn begrüßt … das war eine Auferstehung. Die kann man gar nicht erklären."
Diese Männer, glaubt Fischer, haben ein anderes Gefühl für Freiheit bekommen.
In den 1960er-Jahren gab es einen Dirigentenwechsel. Fischer ging und der aus dem Rheinland stammende Musikwissenschaftler Hermann-Josef Dahmen übernimmt den Chor. Dahmen genießt im Südwesten einen exzellenten Ruf, er ist künstlerischer Leiter des Südfunk-Chores, mit zwei weiteren Dirigenten leitet er auch den bekannten Montanara-Chor. Doch Aischieß wurde ihm Heimat:
"Die Aichschießer hatten den heute berühmtesten deutschen Chorleiter, Gotthilf Fischer, als Leiter, wollten aber diese seichte Musik, die er damals machte, nicht mitmachen und suchten also einen neuen Chorleiter. Und da bin ich dann gekommen und hab ihnen aber gesagt, ihr müsst euch darüber im Klaren sein, dass ich sehr anspruchsvolle Arbeit mache und sehr anspruchsvolles Programm. Und da waren sie einverstanden. Da habe ich tatsächlich mit denen auch zeitgenössische Musik, zum Beispiel … Strawinsky usw. machen können und eben ausgesuchte, seltene Männerchormusik."
Mit neuem Dirigenten gelang ein kleines Wunder
Dahmen zieht nach Aichschieß. Hier ist er nur sieben Kilometer vom Geburtsort des Komponisten und Musikpädagogen Friedrich Silcher entfernt. Dahmen forscht über Silcher, entstaubt den Komponisten. Silcher hat keine abgehobenen Melodien komponiert, er hatte das Volk im Blick. Silcher gehört bald ins Stammrepertoire des Aichschießer Chors.
Unter Dirigent Dahmen gelingt dem Chor etwas, was heute noch in Fachkreisen als kleines Wunder gilt. Dahmen konnte Mittelmäßigkeit nicht ausstehen.
"Wenn ich jetzt gerade unseren Männerchor in Aichschieß ansehe, so sind das Sänger, einfache Arbeiter, Bauern von hier, und Leute, die kaum Noten kennen und gar keine besonderen stimmlichen und musikalischen Voraussetzungen haben gegenüber den Dutzenden anderen Chören ringsum. Aber, dass sie etwas Besonderes geleistet haben war, dass ich sie manchmal bis zur Grenze Höchstleistungen abgefordert habe, sowohl musikalisches wie stimmlich.
Ich habe immer den Eindruck, dass viele Dirigenten viel zu viele Konzessionen nach unten machen. Und zwar auf der einen Seite aus der Furcht, den Leuten zu viel zuzumuten, und auf der anderen Seite wollen sie sich auch zum Teil welche damit beliebt machen, indem sie so gängige Dinge, die sogenannte Folklore und all solchen Tingeltangel machen und sich dann auch in der breiten Schicht auch beliebt machen."
Dahmen bleibt mit seinem Stil in der Tradition der Süddeutschen Laienchorbewegung. Diese wurde von dem Schweizer Musikpädagogen und Komponisten Hans Georg Nägeli beeinflusst. Nägeli, der 1836 in Zürich starb, gilt in der Schweiz als Wegbereiter des Chorgesangs. Historiker Veit.
"Das war um 1800 als von der Schweiz herkommend, sich das Gesangvereinswesen in Deutschland, vor allen Dingen in Süddeutschland ausgebreitet hat. Laut Nägeli sollten diese Vereine für alle Personen unabhängig ihrer Bildung und ihrer sozialen Schichtzugehörigkeit offen sein."
Anders im Norden und vor allem in Berlin.
"Das waren vor allem die elitären Liedertafeln, zum Beispiel die Zeltersche Liedertafel war das Vorbild im Norden während im Süden die Männerchöre im Sinne von Nägeli eben das große Vorbild war."
Im Herbst 1986 hört der Dirigent und Silcher-Forscher Hermann-Josef Dahmen nach 22 Jahren auf. Fünf Jahre später, 1991, stirbt er. Der Chor kommt in die Jahre, junge Dirigenten passen nicht mehr zu den älteren Herren. Der Nachwuchs bleibt aus.
Seifert: "Wenn sie mit dem Chor in einem bestimmten Alter sind, sagen wir über 50, dann wird kein 20-Jähriger zu ihnen kommen, da ist eine Generation dazwischen. Wenn der Chor diesen Punkt verpasst, dann hat er ein Problem."
Mit Horst Sanguinette findet der Männerchor noch einmal einen Dirigenten, der die älteren Sänger fördert. Doch immer häufiger müssen die Männer an Gräbern singen.
Kromer: "Wir haben bei uns eine Regelung getroffen, dass wir gesagt haben, wir können nicht bei allen, die Mitglied waren bei der Beerdigung singen, sondern wir singen nur bei den Sängern."
Die Männer werden weniger - der Zusammenhalt wächst
Doch, je kleiner der Chor wird, umso mehr halten die Männer zusammen.
Seifert/Kromer: "Jeder hat gewusst, es kommt auch auf mich an. Wenn einer am Abend auf der Probe gefehlt hat, dann war der Klang ein anderer. Dann hat oft der Dirigent gesagt, ich kann mit euch nicht proben, wenn ihr nicht alle da seid. Am Schluss haben das alle gewusst und das war bei uns was, was ganz toll war. Ja … - Dass wir immer alle da waren, alle mitgezogen haben und gewusst haben, jetzt kommt es darauf an, auch wenn man ein Konzert gemacht hat jetzt muss jeder sein Bestes geben. Und dann haben die anderen immer gesagt, ihr habt einen ganz tollen Klang, obwohl ihr nicht viele Leute seid."
2008 gibt auch Dirigent Sanguinette seinen Abschied bekannt und es sollte der letzte des Aischießer Männerchors gewesen sein. Mit ihm hören auch viele Sänger auf. Acht Sänger sind jetzt übrig und ihr Alter ist zu hören.
Kromer: "Die Stimme selber, die älter wird, nicht mehr so ganz frisch ist, wie bei einem jungen Menschen, das ist ganz klar."
Das Niveau von früher ist schon lange nicht mehr zu erreichen. Das schmerzt. Auf wenigen Schultern muss die Vereinsarbeit verteilt werden. Nachwuchs ist nicht in Sicht.
Seifert: "Und dann haben wir gesagt, auf die Dauer können wir das nicht mehr machen. Man sieht ja, wir werden alle älter und irgendwann hat es seine Grenze. Deswegen haben wir gesagt, wir machen eben hier einen sauberen Schnitt – a: wir verkaufen die Waldschenke und b: wir hören dann auf."
Im 112. Jahr seines Bestehens löst sich zum Jahresende 2014 der Männerchor Aichschieß auf. Derzeit sichten die verbliebenen Männer die Protokollbücher, um diese einem Archiv zu übergeben. Das in den 1960er-Jahren gebaute Vereinsheim ist verkauft und von dem Geld soll in die Zukunft investiert werden.
Seifert/Kromer: "Das Geld, das wir dann erlöst haben, dieses Geld bringen wir in eine Stiftung ein. Da hat am Montag der Gemeinderat darüber beschlossen, weil die Verwaltung der Stiftung soll die Gemeinde – beide Vorstände – so haben wir es gedacht – und so denke ich, dass es auch zum Laufen kommt."
Die Stiftung soll die Jugendmusikarbeit in der Gegend fördern. Eine Jugendmusikschule gehört dazu und verschiedene Jugendgruppen der Musikvereine in und um Aichschieß. Jährlich sollen die Gelder von der Stiftung bekommen.
Die verbliebenen Sänger haben eine neue gesangliche Heimat gefunden. In der Nachbargemeinde fehlten dem Liederkranz Hohengehren vor allem Tenöre. Man schloss sich zu einer Chorgemeinschaft zusammen. Nach einem Vierteljahr Probezeit stand schnell fest: es klingt zusammen. Wie lange dieser Chor bestehen wird? Keiner weiß es. Der jüngste feierte in diesen Tagen seinen 60. Geburtstag.
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