Ingo Schulze und Christine Traber: Henkerslos. Ein Märchenbrevier
Mit Illustrationen von Sebastian Meschenmoser
Nachwort von Norbert Miller
Hanser Berlin Verlag, Berlin 2013
109 Seiten, 19,90 Euro
Auf Gott oder Zauberkräfte ist kein Verlass
Ein Kind schmort im Fleischtopf, ein Vater köpft ohne Sinn und Reue seine Söhne, ein bildschönes Mädchen verspeist ein Wolfsherz. Ingo Schulze und Christine Traber fügen vertraute Motive zu neuen Märchen zusammen.
Da gibt es einen Mensch und Tier fressenden Karpfen und ein singendes Nixlein. Es gibt den „Zärtling“, den „garst’gen Blubber“, das „Röslein mit dem schweren Zopf“. Auch einen dreiarmigen Henkerssohn, eine hoffärtige Müllerstochter und natürlich ein armes Kind. Miteinander verbunden sind sie durch jenen vertrauten, altertümlich anmutenden Märchenton, den wir seit Kindertagen kennen. Und der, auch wenn wir vielleicht seitdem nie wieder Märchen gelesen haben, uns sofort einstimmt auf ein spezielles Figurenensemble und einen bestimmten Erzählverlauf.
Ingo Schulze, vielfach preisgekrönter Romanautor, feinfühliger Chronist gesamtdeutscher Befindlichkeiten, auch engagierter Kommentator des politischen Zeitgeschehens, überrascht mit seinem neuen Buch. Gemeinsam mit der Stuttgarter Autorin und Redakteurin Christine Traber hat er "Henkerslos, ein Märchenbrevier" geschrieben. Und damit ein kleines, exquisites Stück Literatur geschaffen
Sieben abgründige Geschichten im Märchenton legen Schulze und Traber vor, keine plumpen Modernisierungen überlieferten Materials, sondern vielmehr ein lustvolles Bekenntnis zum reflektierten und fantasievollen Umgang mit literarischer Tradition.
Die Aufhebung von Gut und Böse
Das Autorenduo spielt mit Motiven und Strukturen der von Jacob und Wilhelm Grimm bearbeiteten Volksmärchen und auch mit denen aus Tausendundeiner Nacht. Kurzweilige Handlungsverläufe, oft mit überraschenden Umbrüchen, entwickeln sie zügig: Gute Absichten führen schnell ins Verderben, Geschwister konkurrieren um Lebensglück und Elternliebe. Die meisten der Figuren leben in – neudeutsch würden wir sagen – prekären Verhältnissen. Doch auch diejenigen, die sich eines gewissen Wohlstands erfreuen, sind nicht wirklich glücklich: Ein Sultan will unbedingt einen Blick in die Unendlichkeit werfen. Sein Großwesir lässt zwei Spiegel heranschaffen und einander gegenüber aufstellen. Und obwohl der Sultan nun tagelang im Raum zwischen den Spiegel hin und her schaut, sich dreht und wendet, führt das nur zu dem Gefühl, sich beim Blick in die Unendlichkeit selbst im Wege zu stehen. Büßen muss dafür - der hilfreiche Großwesir.
Schulzes und Trabers Märchen sind im Kern Berichte aus der Gegenwart. In ihnen geht es nicht um Psychologie oder Schicksal, sondern darum, dass das Leben gelebt sein will. Auf das Wirken des Herrgotts oder der mit Zauberkräften Begabten ist kein Verlass.
Die Protagonisten entsprechen nicht märchenhaften Stereotypen. Die Autoren heben die beruhigende Aufteilung von Gut und Böse auf. So sprengen sie das klassische Märchenmuster. Wohlbedacht hat der Künstler Sebastian Meschenmoser für das Brevier einzelne Momente des Erzählten mit Bleistiftzeichnungen illustriert: in Grautönen.
Unterhaltsam und lehrreich sind diese neuen Märchen, kleine Lichtlein in dunkler Zeit.