Märchen

Und wenn sie nicht gestorben sind …

Eine Laubsägearbeit, die Rotkäppchen zeigt, die sich zum Wolf runterbeugt.
Märchen wie "Rotkäppchen" erzählen keine wahren Begebenheiten, sondern symbolisieren oft Ängste, Erfahrungen sowie Sehnsüchte und Wünsche, erklärt Märchenerzählerin Sabine Lutkat. © picture alliance / dpa / Oliver Berg
Veraltet, brutal, gruselig – Märchen wie Rotkäppchen und Rumpelstilzchen stehen heute in der Kritik. Doch sie bleiben beliebt. Passen diese Geschichten noch in die Zeit und kann man zeitgemäß mit ihnen umgehen?
Für manche sind Rotkäppchen, Rumpelstilzchen und Co. Geschichten von Mut und Hoffnung. Andere sehen in den Märchen Erzählungen aus einer längst vergangenen Zeit, voll von Gewalt, überholten Rollenbildern und veralteten Moralvorstellungen.
Und doch gibt es kaum ein Kind, dem nicht irgendwann ein Märchen vorgelesen oder erzählt wurde – oft eines aus der Feder der Gebrüder Grimm, deren Märchensammlung als die erfolgreichste der Welt gilt. Aber sind diese Geschichten heute noch zeitgemäß?

Was sind Märchen?

Märchen finden ihren Platz vor allem in Kinderzimmern – als Gute-Nacht-Geschichten begleiten sie Kinder sanft in den Schlaf oder sie werden in Kitas vorgelesen. Für viele Kinder sind sie der erste Zugang zur Welt der Literatur, erklärt Märchenpädagoge Oliver Geister. Märchen können aber "ein Ratgeber sein, Mut machen und vor allem auch Hoffnung wecken“.
Dabei sind Märchen bei Weitem nicht nur etwas für Kinder, erklärt Sabine Lutkat von der Europäischen Märchengesellschaft. Im Gegenteil: Ursprünglich waren Märchen Geschichten für Erwachsene. Sie greifen grundlegende Lebenserfahrungen auf, thematisieren elementare Ängste und sprechen Wünsche sowie Hoffnungen an.
„Sie nähren sich aus dem, was Menschen erleben“, sagt die Schriftstellerin Felicitas Hoppe, „zugleich gehen sie über das Erlebte hinaus, indem sie eigene Wünsche an das Leben formulieren und mit einer ganz eigenen Kraft erzählerisch agieren“. Bis heute prägen Märchen Filme, Serien und Bücher.

Inwiefern können Märchen problematisch sein?

Allerdings stehen Märchen wie jene der Gebrüder Grimm zunehmend in der Kritik. Geschichten wie „Hänsel und Gretel“ sind grausam und brutal. Das lässt manche Eltern zweifeln, ob sie ihren Kindern solche Geschichten wirklich vorlesen sollten. „Wenn wir Kinder mit Märchen auf das Leben vorbereiten wollen, dann dürfen wir das Grausame und Brutale nicht aussparen“, meint Märchenpädagoge Oliver Geister.
Ähnlich argumentiert Sabine Lutkat: „Wir müssen uns auch mit den dunklen Seiten des Lebens auseinandersetzen.“ Märchen lieferten die Bilder, um sich auf der Fantasieebene mit den eigenen Ängsten beschäftigen zu können. Am Ende laute die zentrale Botschaft: „Egal, wie schlimm es zwischendurch auch ist, du kannst da durchkommen.“
Allerdings sei nicht jedes Märchen automatisch eine gute Kindergeschichte. Lutkat plädiert dafür, sorgfältig auszuwählen, welche Geschichten für Kinderohren geeignet sind.

Überholte Rollenbilder und alte Moralvorstellungen

Die eifersüchtige Stiefmutter, der tapfere Prinz und die böse Hexe – Kritiker bemängeln, dass Märchen von alten Rollenbildern geprägt sind und eine klare Trennung zwischen Gut und Böse vornehmen. Sie argumentieren, dass solche Erzählungen überholte Geschlechterrollen zementieren und nicht mehr in unsere Zeit passen.
Sabine Lutkat hält das für zu kurz gedacht. Man dürfe Märchen nicht zu sehr auf die Rollenklischees reduzieren, sagt sie und erklärt: „Es gibt genauso viele Frauen in Märchen, die Männer erlösen, wie Männer, die Frauen erlösen.“

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Aschenputtel und die Verfilmung "Aschenbrödel" gehöre für sie nicht zu den Frauen, die erlöst werden müssen. „Ich finde, die ist auch eine ganz starke Figur, die ihren Lebensweg geht“, so Lutkat.
Aus der Sicht von Schriftstellerin Felicitas Hoppe unterschlägt die Debatte zudem, dass das Böse in Märchen oft selbst „erlösungsbedürftig“ sei. „Wir haben eine Menge Märchen, in denen es Figuren gibt, die negativ zu agieren scheinen, aber eigentlich nur von den anderen erlöst werden wollen.“
Gleichwohl sind laut Hoppe gewisse Gegensätze wichtig für die Spannung. Den Kontrast sieht sie aber vor allem zwischen Figuren, die sich öffneten und in die Welt aufbrächen, und den „geschlossenen“, die vor allem an Macht und Machterhalt interessiert seien.

Wie haben die Nazis Märchen instrumentalisiert?

Die Nationalsozialisten erkannten schnell das Potenzial, das Märchen gerade bei Kindern besitzen. Sie nutzten dies gezielt für ihre Propaganda.
Joseph Goebbels und andere NS-Politiker instrumentalisierten Märchen, um ihre antisemitische Ideologie zu verbreiten, erklärt Oliver Geister. Mit Erzählungen wie „Der Froschkönig“ oder „Schneewittchen“ konnten die Nazis „erwünschte Tugenden und Haltungen transportieren“, so der Münsteraner Erziehungswissenschaftler. Dabei standen vor allem Werte wie Stärke, Mut, Kampfbereitschaft und bedingungslose Treue im Vordergrund.
Die Nazis deuteten Märchen gezielt um und ließen einige sogar umschreiben, sagt Geister. So dichteten sie beispielsweise der Figur Rumpelstilzchen jüdische Attribute an und machten ihn zum Erpresser und Schurken, dem sie eine blonde, blauäugige Müllerstochter gegenüberstellten.
Aus Sicht des Pädagogen seien die Geschichten auch deshalb als Propaganda instrumentalisiert worden, weil Märchen häufig vielseitig interpretiert werden könnten. Das Gut-Böse-Schema lasse sich leicht auf den Freund-Feind-Gegensatz übertragen.  

Wie kann ein moderner Umgang mit Märchen aussehen?

Sabine Lutkat plädiert dafür, traditionelle Märchen auf einer symbolischen Ebene zu verstehen. „Es sind ja keine realen Geschichten, die genauso passiert sind“, erklärt sie. Es habe etwa nie eine Hexe gegeben, die Kinder im Wald gefressen hätte.
Vielmehr seien Märchenfiguren wie Hexen oder böse Stiefmütter oft Bilder für unsere eigenen Erfahrungen, innere Ängste, aber auch für unsere Sehnsüchte und Wünsche, also das, was sich Menschen im Leben erhoffen. Diese symbolische Deutung hilft dabei, die zeitlosen Themen von Märchen auf moderne Lebenssituationen zu übertragen.
Auch Märchenpädagoge Oliver Geister wirbt dafür, Märchen nicht wörtlich zu nehmen. Außerdem könne man die Märchen flexibler erzählen. Wer sich zum Beispiel beim Vorlesen unwohl fühle, könne die Geschichte je nach Erzählsituation auch etwas abändern.
Für Sabine Lutkat steht zumindest als Erzählerin fest, dass es auch weiterhin die schönste Art und Weise sei, Märchen in erster Linie durch das mündliche Erzählen weiterzugeben: „Das ist eine wunderbare Erfahrung, wo zwischen den Zeilen ganz viel passiert, was ein sehr schönes Miteinander ist“, so Lutkat.
Ein moderner Umgang mit Märchen verbindet somit die Freiheit, Geschichten zeitgemäß zu interpretieren und anzupassen, mit der Wertschätzung ihrer traditionellen Erzählkraft. So können sie weiterhin Generationen begleiten und inspirieren.

irs
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