Ein einziger großer Rausch
Der britische Regisseur Keith Warner entreißt "Hänsel und Gretel" den dunklen Anklängen von Kinderarmut oder Pädophilie - und inszeniert eine verspielte und lehrreiche Oper. Die Zuschauer erleben fantastische und traumhafte Sequenzen und ein verblüffend gutes Ende.
Die Geschichte von Hänsel und Gretel à la Humperdinck ist kurz und knapp erzählt: Hänsel und Gretel sind arm und hungrig, verschütten die einzige Milch, die für Reisbrei gedacht war und werden darum von ihrer Mutter in den Wald geschickt, Beeren zu sammeln. Dabei verirren sie sich, sie kommen zum Haus der Hexe, die will Hänsel mästen, um ein "leckeres Abendessen" aus ihm zu machen. Aber Hänsel und Gretel schaffen es, die Hexe selbst im Backofen zu backen. Und alles wird gut.
So etwa erzählt Engelbert Humperdinck die Geschichte von Hänsel und Gretel in seiner Oper, die "äußerlich" eine Kinderoper, "innerlich" aber eine Erwachsenenoper ist, weil dieses Märchen verschiedene Subtexte mitschleppt: Gewalt an Kindern, Kinderarmut, Kinderarbeit, Pädophilie gar oder auch Kannibalismus. Wenn man die dunklen Seiten von "Hänsel und Gretel" großflächig ausleuchtet, könnte eine barbarische Geschichte zum Vorschein kommen. Verwendet man allerdings nur hier und da ein mattes Streiflicht, wie Keith Warner in seiner fantastischen Frankfurter Inszenierung, dann entsteht eine verspielte, geistreiche und lehrreiche Geschichte, die keines dieser Themen als Erzählkrücke braucht.
Puppentheater ergänzt das Bühnengeschehen
Es gehört zu Keith Warners Handschrift, Operngeschichten auf verschiedenen Ebenen und mit brüchiger Zeitstruktur zu erzählen – mit dem Effekt, dass sich eine große rauschhafte Illusion einstellt, weil man nie weiß, was eigentlich "Wirklichkeit" ist und was im Kopf einer Hauptfigur. Weil Warner in Frankfurt mit dem Bühnenbildner Jason Southgate, der auch Puppenbauer ist, zusammenarbeitet, nutzt er dessen Talent und verdoppelt die Hauptfiguren durch Puppen – Marionetten und Stabpuppen. Es gibt eingangs ein kleines Stabpuppentheaterspiel, in dem zur Ouvertüre aus dem Orchestergraben das Märchen in einem Kasperltheater (Thomas Korte vom Frankfurter "Klappmaultheater") auf der Bühne als Kurzversion dargeboten wird. Diese Ouvertüren-Puppen spielen über alle drei Akte in das Geschehen auf der großen Bühne hinein: als Doubles von Hänsel und Gretel, als Spielzeug, als Dekoration an der Wand der Hexenküche.
Regisseur Keith Warner lässt die Geschichte in einem Waisenhaus oder Kinderheim spielen, das ausstaffiert ist mit Stahlrohrbetten des frühen 20. Jahrhunderts. Gertrud (Heidi Melton) und Peter (Alejandro Marco-Burmester) sind die Leiter dieser Einrichtung: beide unbarmherzig, gierig und lieblos. Das karge Heim ist voller Betten – immerhin: das Träumen ist Hänsel und Gretel noch nicht vergangen. Und so träumen sie sich nach dem Verschütten der Milch in den finsteren Wald hinein, in dem allerlei fantastische Dinge passieren. Der Zuschauer ist der Voyeur, der durch ein riesiges Schlüsselloch groteske, komische, verrückte Traumszenen ergattert. Üppig, prall und lebendig ist dieses Zauber-Märchenspiel auf der Bühne: ein einziger großer Rausch aus Licht, kleinen Tricks und mal verblüffenden, mal naiven Illusionen.
Musik mit großer Geste
Musikalisch wertet Sebastian Weigle das Stück extrem auf, indem er den ersten und zweiten Akt wie Musik von Richard Wagner spielt, den dritten Akt dabei fast operettenhaft nimmt in einem Tonfall, der an Strauss und Offenbach erinnert. Weigle nimmt die Musik mit großer Geste. Und das Sängerensemble kann dem vorzüglich standhalten. Allen voran die Wagner-Sängerin Heidi Melton (Gertrud), die mit dieser Rolle an der Frankfurter Oper debütiert. Sie ist eine große, kräftige Frau, die allein schon mit ihrem Körper, viel mehr aber noch mit ihrer gewaltigen, wegblasenden, schön geführten Stimme sehr viel Bühnenpräsenz einfordert. Sie fällt schauspielerisch auf: markant, wendig und sehr witzig ist sie. Ihr konnte nur Peter Marsh, der die Hexe sang, die Show stehlen, der als Zwitterwesen aus Hexe und Weißclown eine dankbare Rolle hatte, denn Warner hat den Tenor nach allen Regeln der Kunst – über Verkleidung, Versteck- und Schattenspiel und naive Illusionen – in einer perfekten Choreografie über die Bühne gescheucht. Großartig!
Am Ende bleibt die Euphorie über eine rauschhafte Musik, über eine fantastische Operngeschichte, die verblüffend ein gutes Ende nimmt mit der versöhnlichen Nachricht, dass man auch in schlechten Zeiten auf das Gute hoffen soll. Klingt banal: aber nicht wenn Keith Warner einem das erzählt.