Magazin "Theater der Zeit"

„Eine wahnsinnige Sehnsucht nach Präsenz“

09:56 Minuten
Drei künstlerisch gestaltete Belüftungsrohre einer Kanalbelüftungsanlage stehen am Montag (14.12.2009) in Düsseldorf in der Nähe des Volksgartens. Die bunt bemalten "Zweckbau-Skulpturen" wiegen 27 Tonnen, sind acht Meter hoch und nach dem schottischen Seeungeheuer "Nessy" benannt. An die 70 000 Kubikmeter Luft saugt "Nessy" pro Sunde an und bläst sie in das unterirdische Kanalsystem der Düsseldorfer Innenstadt.
Statt sich über Inszenierungen zu unterhalten, spricht man über Belüftungsanlagen, bedauert Christine Wahl. © picture alliance / dpa / Horst Ossinger
Moderation: André Mumot |
Audio herunterladen
Dorte Lena Eilers und Christine Wahl vom Magazin „Theater der Zeit“ blicken zurück auf ein Jahr, in dem die Theater immer wieder geschlossen wurden. Sie sprechen über weibliche Perspektiven und die Leistungsfähigkeit von Lüftungsanlagen.
Dieses Jahr ist eine Herausforderung für die Theater. Und auch für diejenigen, die darüber schreiben, die es kritisch und diskursiv begleiten. Vor einer besonderen Herausforderung stand das Magazin "Theater der Zeit" 2020 aber nicht nur deshalb, sondern auch, weil es sich personell neu aufgestellt hat – und damit weiblicher geworden ist.
Im Januar übernahm Dorte Lena Eilers, die seit 2007 als Redakteurin an der Publikation mitgearbeitet hat, die Chefredaktion. Im August kam Christine Wahl als Redakteurin dazu. Sie war lange Jahre unter anderem für den Berliner "Tagesspiegel" als Kritikerin tätig und gehörte auch zur Jury des Theatertreffens.

Perspektive nicht zwangsläufig vom Geschlecht abhängig

Die Zusammenarbeit funktioniere gut, berichten beide. "Ich glaube, ich bin jemand, der einfach wahnsinnig gern im Team arbeitet", sagt Chefredakteurin Eilers. "Ich muss mein Ego da nicht durchsetzen, ich würde es auch falsch finden für ein Magazin, das ein publizistisches Organ ist und eigentlich auch eine Vielfalt an Stimmen abbilden will. Da ist es eigentlich immer falsch, wenn man seine Ego-Tour fährt."
Dabei sei gerade das kontroverse Diskutieren über Theater und Inszenierungen wichtig, wie Wahl betont: "Konstruktive Konflikte sind sehr wichtig. Ich bin auch eine große Freundin von ästhetischen Konflikten."
Dass immer noch vor allem Männer in leitenden Positionen großer Medien anzutreffen seien, müsse man feststellen. Der von vielen eingeforderte Perspektivwechsel sollte aber nicht zwangsläufig vom Geschlecht abhängig gemacht werden. Dies gelte auch für die Theaterkritik.
"Ich glaube auch überhaupt nicht an den weiblichen Blick", sagt Wahl. "Ich glaube auch nicht an den männlichen Blick, ich glaube an den individuellen Blick. Was ich ganz wichtig finde, ist, dass Frauen – und das ist auch ein großes Thema im Theater und in der Regie – gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Institutionen und Ressourcen haben. Dass etwa Regisseurinnen die gleichen Chancen bekommen wie Männer, die gleichen Möglichkeiten, große Stoffe auf den großen Bühnen zu inszenieren."

Streaming kann Lücke nicht füllen

Die Pandemie hat auch die Redaktion der "Theater der Zeit" hart getroffen. Wie macht man ein Monatsmagazin, wenn die Bühnen immer wieder für längere Zeit schließen müssen und selbst keine Planungssicherheit haben? Eine schwierige Situation.
"Wenn man etwas Positives daraus ziehen will", so Wahl, "dann ist es natürlich ein gewisser Vorteil, dass man Zeit hat und in der Zeitschrift auch Raum – also ganz praktisch im Sinne von Seiten –, um über Grundsätzliches nachzudenken. Das ist auch immer etwas, was in Krisensituationen generell ganz fruchtbar ist. Das haben wir ganz viel gemacht."
Wann die Theater wieder vor Publikum spielen, ist ungewiss. Dafür mehren sich die digitalen Streamingangebote. Die Lücke wirklich schließen können diese aber nicht, wie Eilers einräumt:
"Man hat eine wahnsinnige Sehnsucht nach der Präsenz. Das hat natürlich auch viel mit dem Raum zu tun, das hat was mit den Menschen zu tun. Nichtsdestotrotz merkt man, wie die Formate im Internet, die Live-Streams vor allen Dingen einen hohen künstlerischen Anspruch versuchen." Ganz persönlich fände sie es, "einfach immer noch schöner gemeinsam im Theater zu sitzen und zu schwitzen".

Die Pausengespräche fehlen

Wahl teilt diesen Eindruck im Rückblick auf das Theaterjahr 2020. Auch die Zeiten, in denen die Bühnen offen waren und bespielt wurden, seien immer von der Pandemie überschattet worden.
"Das ist schon extrem aufgefallen, dass es keinen Spaß macht, statt zum Beispiel ein Pausengespräch darüber zu führen, ob das jetzt gelungen ist, dass Don Carlos in der modernen Büroetage spielt, man nun dasteht und sich über die Leistungsfähigkeit von Belüftungsanlagen unterhält. Das ist nicht schön."
(amu)
Mehr zum Thema