Ein Städte-Streit entzweit Sachsen-Anhalt
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Halle oder Magdeburg: Wer ist die Schönere im Land? Der Streit wird bis heute in Sachsen-Anhalt geführt. Der historische Konflikt darüber, welche der beiden Städte 1990 Landeshauptstadt werden sollte, gefährdete fast die Wiedervereinigung.
"Ich fahre jetzt von der schönsten Stadt in Sachsen-Anhalt in die zweitgrößte Stadt in Sachsen-Anhalt. Das ist ein geflügeltes Wort, wenn wir reisen."
Hendrik Lange gluckst, ein eingeschworener Hallenser. Und: Oberbürgermeister-Kandidat sowie Landtagsabgeordneter der Linken. Magdeburg ist für ihn Feindesland. Christdemokrat Marco Tullner nickt, er ist Bildungsminister in Sachsen-Anhalt: "In Magdeburg ist die Welt ja doch ein bisschen anders."
Ein Umzug nach Magdeburg käme für Tullner nie und nimmer in Frage. Er würde sich nicht mal in ein Auto mit dem Kennzeichen MD setzen, das für Magdeburg steht. Ein Grund, warum er seinen Minister-Dienstwagen - anders als seine Kollegen - auch mit einem Hallenser Kennzeichen fährt. Obwohl Tullner in Wismar geboren ist, in Magdeburg zur Schule ging. Aber dort leben? Niemals, sagt Minister Tullner:
"Na, weil Halle die eindeutig schönere Stadt in Sachsen-Anhalt ist, viel mehr Flair hat, viel mehr Urbanität hat. Das ist in Magdeburg nicht so ausgeprägt. Deswegen würden mich keine zehn Pferde mit oder ohne Luftdruck nach Magdeburg ziehen."
Eine schönere Stadt als Magdeburg? Gibt es nicht!
Stefan Thurmann ist ein eingeschworener Magdeburger und läuft rot an. Er wohnt und lebt in Magdeburg. Eine schönere Stadt als Magdeburg? Gibt es nicht. Und zwar weltweit, sagt Thurmann. Besonders hart war es in Hamburg, erzählt Thurmann, als er eine Weile in der Großstadt elbabwärts leben musste. Zum Glück ist er zurück in Magdeburg. Thurmann atmet hörbar auf.
"Total, wenn man einmal in der Stadt angekommen ist und eine Weile hier verbracht hat, dann lässt die Stadt einen nicht mehr los. Man ist dann schon mit Haut und Haaren dabei."
Der Zwist zwischen Magdeburg und Halle: Eine Rivalität, wie sie in der Intensität, Unerbittlichkeit und Härte in Ostdeutschland nirgends zu finden ist.
"Also, das ist Magdeburger DNA die Rivalität zu Halle. Für mich ist das eine Sache, die für die Stadt wahnsinnig wichtig ist. Das ist ein Stolz. Man misst sich gerne mit dem vermeintlichen Gegner. Ich finde es sowohl für Magdeburg als auch für Halle wichtig. Weil das Punkte sind, die Heimatgefühl geben, die Stolz geben, die Freude machen."
Eine gesichtslose sozialistische Großstadt
Magdeburg wurde zweimal zerstört, im Dreißigjährigen Krieg und kurz vor Ende des NS-Regimes. Darunter leidet die Stadt bis heute. In der Innenstadt sind die Magistralen so groß, dass Flugzeuge landen könnten. Lauschige Gassen gibt es nicht. Auch der Versuch des Stadtbaurats Bruno Taut, Anfang der 20er-Jahre aus der grauen Festungsstadt Magdeburg eine bunte Stadt zu machen, ist nur von kurzer Dauer. Ein Experiment, das die Nazis zunichte machen.
Grundlegend sind moderne Siedlungsbauten ohne das übliche Einheitsgrau. Stattdessen sind sie bunt und farbgewaltig. Aber auch expressionistische Kioske und Reklame entstehen. Die Stadt erlebt einen spürbaren Aufschwung, Menschen ziehen nach Magdeburg. Lange her. Nach dem Nationalsozialismus und der SED-Diktatur kann Magdeburg an diese Tradition nie anknüpfen. Ganz im Gegenteil: Aus Magdeburg wird eine gesichtslose sozialistische ostdeutsche Großstadt. Aus der nur der herrschaftliche gotische Dom herausragt, als Denkmal an vergangene große Zeiten. Als Magdeburg mal das New York Europas war.
"Magdeburg hat einen ganz eigenen Charme, einen robusten, rustikalen Charme. Und hat ungemein viel Lebensqualität."
Behauptet zumindest Stefan Thurmann.
Aktueller Einwohnerstand: Halle hat 386 Menschen mehr
In Halle entsteht mit Halle-Neustadt - kurz genannt Haneu - eine Plattenbau-Trabantenstadt, die Innenstadt ist ohne Zerstörungen erhalten geblieben. Allein die SED-Machthaber ließen sie verfallen. Ohne die Sanierung nach der Wiedervereinigung wäre die an den romantischen Saaleauen gebaute Stadt wohl in sich zusammengefallen.
Der Knatsch zwischen der Elbmetropole und der Saale-Stadt kreist um diverse Minderwertigkeitskomplexe. Das alles überstrahlende Thema: Die Größe der Einwohnerschaft. Nur wer da führt, ist auch die echte Landeshauptstadt. Mal ist Halle vorn, mal Magdeburg. Aktueller Stand: Die Händel-Stadt Halle hat mit 238.358 Einwohnern genau 386 Einwohner mehr als Magdeburg, in dem aktuell 237.972 Menschen leben. Ein tiefer Schmerz für die Stadt am Mittellauf der Elbe.
Besonders groß ist der Streit - na klar - im Fußball. Denn der aktuelle Zweitligist 1.FC Magdeburg ist der einzige Ost-Club, der einen Europapokal errungen hat. 1974 gegen niemand Geringeren als den AC Mailand. Trainer damals dort: Der junge Giovanni Trappatoni.
Der heutige Drittligist Halle konnte im Fußball dagegen nie was reißen. Wenn beide Teams aufeinander treffen, dann herrscht Alarmstufe rot. Aber auch in der Musik ist die Rivalität groß. In Halle gibt es Händel, in Magdeburg Telemann. Der große Hallenser Sohn ist Genscher, in Magdeburg ist es Otto von Guericke.
"Ibiza und Malle, kennen alle. Aber wer kennt das Land zwischen Magdeburg und Halle ... "
Obwohl die beiden Städte nur 90 Kilometer trennt, sitzen die Schmähungen und Verletzungen tief. Sehr tief. Nicht seit gestern, sondern seit nun schon einem Jahrtausend. Mindestens.
"Im Jahre 968 - bitte nicht 1968, sondern 968 - sind Magdeburg und Halle in einem staatlichen Gebilde vereinigt. Der Sitz des Erzbischofs ist Magdeburg, der Dom - also die Hauptkirche steht in Magdeburg ... ."
... also ist auch Magdeburg die Residenzstadt - heute würde man sagen Landeshauptstadt. Unterstreicht Matthias Tullner, er ist Historiker. Anders als sein Sohn, Bildungsminister Marco Tullner, ist Tullner senior überzeugt: Nicht Halle, sondern Magdeburg ist die bedeutendste Metropole des Landes Sachsen-Anhalt.
Magdeburg ist fast immer Regierungssitz
Einst nannte es sich Erzstift Magdeburg, zu Zeiten, als die Fürsten und Könige der Wettiner hier herrschten. Selbst als Magdeburg im Dreißigjährigen Krieg völlig zerstört wurde, wurde aus Halle keine Residenzstadt, erzählt Tullner. Und lacht: "Das ist für einen Hallenser geradezu unerträglich."
Halle bekommt zwar die Universität, erzählt Tullner. Aber der Sitz der Haupt- und Residenzstadt an Elbe und Saale - das war, das blieb und bleibt bis zum heutigen Tage Magdeburg. Auch als die Magdeburger Erzbischöfe für kurze Zeit ihren Regierungssitz nach Halle, in die Neue Residenz verlegen. Eine Trutzburg, ein bedeutender Bau der Frührenaissance, die die Machthaber den rebellischen Hallensern vor die Nase setzen.
"Halle gelingt es aber nicht in die Hauptstadt-Rolle einzurücken, das wäre ja auch möglich. Die nominelle Hauptstadt blieb Magdeburg."
Der Blick in die tieferen Schichten macht es deutlich: In Magdeburg wird fast immer regiert, in Halle immer studiert und philosophiert. Doch mit der Industrialisierung - als Halle zum Zentrum deutscher Industriegeschichte wird - ändert sich das. Die Großchemie, der Braunkohleabbau, die Luftfahrt-Industrie braucht Arbeitskräfte, eine große Arbeiterschaft wandert ein. Der Umgangston in Halle wird rauer, weniger professoral:
"Also dass man in Halle deswegen auch geistige, schließlich politische Widersprüche und Konflikte anders austrägt als in Magdeburg. Wenn Konflikte auftauchen, verlaufen die in Halle in einer Fieberkurve mit großem Ausschlag, während sie in Magdeburg relativ wellenmäßig verlaufen."
Hallenser sprechen anders als Magdeburger
Und das hat sich bis heute nicht verändert. In Magdeburg sehen die Menschen die Probleme des Alltags gelassener, während man in Halle eher ruppig, schroff reagiert.
Die Bruchlinien sind auch heute deutlich sichtbar. Der Riss verläuft haargenau entlang der berühmtesten deutschen Sprachgrenze, der so genannten Ik-Ich Linie, die grob gesehen zwischen Aachen und Frankfurt/Oder verläuft. Nördlich davon spricht man niederdeutsch, was man heute landläufig hochdeutsch nennt. Südlich davon sprechen die Menschen mitteldeutsch, heute würde man sächsisch sagen. "Magdeburgisch klingt eben ganz anders als hallesch", ein Zitat, das dem Reformator Martin Luther in den Mund gelegt wird.
"Ick wette, dit hört man schon raus, dass wir das G hier vernachlässigen. Vorel, statt Vogel sagen, Machdeburch. Da war ja auch kein G zu hören ... "
... erzählt der Magdeburger Pierre Kurby, Hobby-Dialektforscher. Zusammen mit Alexander Blamberg ist er der Herausgeber eines kleinen Magdeburger Mundart-Lexikons.
"Das G wird sehr oft zum J. Das kleine Örtchen Gommern bei Magdeburg, wird dann zu Jommern. Daher kommt auch der Spruch: "In Jommern jibts jrüne Jorken."
Was gibt's da? Jrüne Jorken. Grüne Gurken."
Der Streit gefährdete die Wiedervereinigung
Und natürlich ist ein Grund für den Zwist zwischen Halle und Magdeburg die komplizierte Suche nach der Landeshauptstadt. Damals, 1990. Die Vertreter der früheren DDR-Bezirke Halle und Magdeburg stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der Grund dafür: Die früheren Hallenser SED-Wende-Hardliner, die schon zu DDR-Zeiten ungewöhnlich rigoros und entfesselt machtbesessen agieren, erzählt Matthias Tullner. Historiker und Herausgeber einer Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt:
"Die haben sich auf nichts eingelassen, die haben die anderen brüskiert. Das ging soweit, dass der Dessauer Oberbürgermeister bei einer Diskussion über diese Frage der Landeshauptstadt zum Halleschen OB gesagt hat: 'Hören Sie mal, im Falle einer Volksabstimmung über die Landeshauptstadt-Frage garantiere ich Ihnen, dass in Dessau jeder für Magdeburg stimmt. Einschließlich derer, die noch nie in Magdeburg waren.'"
Eine Einigung scheint kaum möglich. Bis Kanzler Helmut Kohl ein Machtwort spricht, erzählt Tullner, Professor an der Universität Magdeburg. Die gesamte Wiedervereinigung, sie schien gar an der Frage Halle oder Magdeburg zu scheitern.
"Weil sich hier nichts bewegte. Die Vorbereitung des Landes, das da beitreten sollte, waren so schlimm, dass Bundeskanzler Kohl den Ministerpräsidenten de Maizière rügte und ihn aufforderte, er möge etwas tun, damit der Einheitstermin nicht gefährdet wird."
Am Ende wird nicht Halle, sondern Magdeburg mit großer Mehrheit gewählt. Für Halle stimmen im August 1990 lediglich 882 Abgeordnete der Kreistage und Stadtverordnetenversammlungen, für Magdeburg haben sich 1298 Mandatsträger ausgesprochen. Eine überwiegende Mehrheit. Doch der Weltfrieden ist damit nicht eingekehrt, ganz im Gegenteil. Die Händelstadt werde durch die Magdeburger Landesregierung benachteiligt, behauptet der Hallenser OB-Kandidat Hendrik Lange von der Linkspartei.
"Dieses Gefühl des Abgehängtseins, das ist deutlich. Und das macht es insbesondere an den Stellen deutlich, wo man gesagt hat: Okay, dann ist Magdeburg die Landeshauptstadt und Halle ist die Kulturhauptstadt. Nur selbst der Titel Kulturhauptstadt wird mittlerweile streitig gemacht. Und dann bleibt so ein Gefühl zurück. So nach dem Motto: Naja, Halle ist den Regierenden in Magdeburg nicht ganz so wichtig."
Wie kommt man zusammen? Gar nicht. Stattdessen wird gestichelt, was das Zeug hält. Und das klingt ungefähr so: Das Beste an Halle ist die Autobahn nach Magdeburg. Und: Wäre Magdeburg schön, na klar, dann würde es Halle heißen.