Magischer Realismus und Neue Sachlichkeit

Von Volkhard App |
Die Werke von Franz Radziwill passen in keine kunsthistorische Schublade. Seine Bilder zählen weder zu den typischen Vertretern des magischen Realismus noch zu denen der Neuen Sachlichkeit. Das wird vor allem dann deutlich, wenn man den Blick auf die Stillleben und Landschaftsbilder von Radziwill legt.
Eine von Raureif bedeckte Landschaft, leuchtende Häuser - eingebettet in die Natur, ein Strand im Winter, anheimelnde Stadtansichten und immer wieder Bauten, bei denen Radziwill, der gelernte Maurer, jeden Klinker angedeutet hat – im Grunde hat er eine Welt gemalt, in der sich der Mensch heimisch fühlen könnte. Doch gerade in dieser Idylle wächst bei ihm das Unbehagen, das Wirkliche schlägt ins Unwirkliche um, die penible Gegenständlichkeit ins Metaphysische. Michael Brötje, der die Schau in Paderborn mit zusammengestellt hat:
"Das Bedrohliche liegt darin, dass sich Teile des Bildes verfinstern, dass sich Konstellationen aufbauen, wie ich sie eigentlich nur im Traum erleben kann, dass etwas Präsentes plötzlich zurückgenommen wird und ins Gegenteil umschlägt."
Einmal mehr beeindrucken die Hell-Dunkel-Kontraste auf seinen Gemälden: hinter all der Beschaulichkeit türmen sich finstere Himmel auf. Der starrköpfige Künstler, der sich 1923 im Fischerdorf Dangast am Jadebusen ein Haus kaufte, war offen fürs Spekulative, für die Welt hinter den Dingen: Ein geheimnisvolles Licht setzt Zeichen am Himmel, Flugzeuge – oft sind es Doppeldecker – wirken wie Menetekel, und undefinierbare Himmelskörper und Flugvehikel aller Art gehören schließlich ganz dem Reich des Phantastischen an.

Radziwill - ein "magischer Realist"? Er selbst hatte immer Distanz zu kunsthistorischen Schubladen. Und in Paderborn möchte man ihn denn auch von allzu engen Kategorien befreien. Andrea Wandschneider, Leiterin der Städtischen Galerie in der Reithalle:
"Wenn man sich die typischen Vertreter des ‚magischen Realismus‘ und der ‚Neuen Sachlichkeit’ einmal vor Augen führt und Radziwill in diese Gruppe der Künstler um Schad, Kanoldt - und wie sie alle heißen - hineinstellt, wird unmittelbar gewiss, dass er da nicht hineingehört, dass er etwas ganz anderes will und auch mit der sinnlichen Strahlung seiner Bilder einen ganz anderen Standort einnimmt. Unserer Meinung nach ist es eine Vereinfachung, ihn in diese Schublade zu stecken. Er ist ein Einzelgänger."
Flugzeuge, Kräne und mächtige Schiffe, die den Menschen zu erdrücken drohen, stehen bei Radziwill für die Größe und die Abgründe der Technik. In seinen Bildern stecken zivilisationskritische Momente, die die Brücke in die Gegenwart schlagen, zu unserer eigenen Skepsis. Er veranschaulichte sein ambivalentes Verhältnis zur Technik gern am Beispiel des Messers: Damit könne die Hausfrau die herrlichsten Salate zubereiten, damit könne man aber auch einen Menschen töten.

In Paderborn sieht man Radziwill nicht so sehr als Zivilisations-Kritiker, sondern legt Wert auf eine vielschichtige Interpretation und betont die christliche Symbolik in seinen Motiven: So kann ein Flugzeug die Auferstehung ausdrücken. Brötje:
"Auf seinem berühmtesten Gemälde, dem ‚Wasserturm in Bremen’, ist der Wasserturm so ins Bild gesetzt gegenüber dem hellen Vordergrund mit Häusern, dass er zu einer Art Überwachungsmacht wird. Er entspricht dem, was man im Alten Testament mit einem strafenden, rächenden und überwachenden Gott verband, der seine Pläne noch nicht preisgibt. Und das ist typisch für Radziwill, solche technischen Elemente zu transformieren in Chiffren biblischer Urerfahrungen."
Vor inhaltlicher Engführung sollte man sich bei einem Künstler wie Radziwill tunlichst hüten - das wird auch in Paderborn deutlich, wo man manches aus früheren Retrospektiven vertraute Gemälde nicht zeigen mag – vor allem plakative Bilder. Stattdessen rücken selten oder noch gar nicht ausgestellte Landschaften ins Blickfeld: So der verschneite Strand mit einem roten und einem blauen Boot.

Die expressiven Anfänge Radziwills werden in dieser Schau nur angedeutet. Das besondere Interesse gilt neben den Landschaften den Stillleben, auf denen simple Objekte wie eine Milchkanne, Vasen und Schalen, Flaschen, zwei Brötchen, ein Pfirsich oder ein Handtuch zu erzählen beginnen. Irritationen stellen sich aber auch hier ein, wenn zum Beispiel das aufgehängte Handtuch in der Komposition nach rechts gerückt ist und der Betrachter auf ein leeres Stück Wand blickt:
"...so dass man gar nicht weiß, was hier denn stimmt. Gilt diese leere Wand, auf der sich nichts findet außer der imaginären Lichtbewegung, oder gelten diese Gegenstände, die sich einem immer wieder entziehen? So wird die Wirklichkeit zersetzt, die man als bedrohlich und unheimlich erfährt."
Radziwill, ein großer Maler mit heikler Biografie: 1933 setzte man ihn, das NSDAP-Mitglied, in Düsseldorf auf den Lehrstuhl der Akademie, von dem die Nazis gerade Paul Klee verjagt hatten. Als Radziwills expressive Anfänge bekannt wurden, entfernte man auch ihn aus dem Amt, er erhielt Ausstellungsverbot, etliche seiner Werke galten als "entartet". Andererseits durfte er auf Kriegsschiffen mitfahren und war stolz, wenn amtliche Stellen Bilder von ihm kauften. Wie geht man heute mit einer solchen Biografie um? Andrea Wandschneider:
"Ich meine, man sollte da nicht so schnell aburteilen. Radziwill war menschlich sehr offen, sehr unkompliziert, unprätentiös. Und mit dieser Offenheit ging eine gewisse Naivität einher. Man sollte vor allen Dingen unterscheiden zwischen dem Menschen und Zeitgenossen Radziwill, der sich durch die Parolen irreführen ließ, und dem Künstler."
Franz Radziwill wird mit dieser Ausstellung erneut zur Diskussion gestellt, und er soll noch bekannter werden - ein Maler, der wegen der vom Kunstbetrieb lange bevorzugten Ungegenständlichkeit immer wieder vernachlässigt worden ist:
"Dass er in gewisser Weise aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden ist, hängt mit dieser unglücklichen Tendenz der Ausstellungsprogramme zusammen, immer jene Künstler für wichtig zu erachten, die einen Beitrag für die moderne Kunst, die Abstraktion, geleistet haben. Und dem versuchen wir zu begegnen."