Sie durften nicht leben
Unter dem Decknamen "T4" koordinierten die Nationalsozialisten den Mord an geistig oder körperlich beeinträchtigten Menschen. Nun endlich erinnert ein Mahnmahl in Berlin an die Opfer des "Euthanasie"-Programms und klärt über ihr Schicksal auf.
Eine blaue Glaswand, 24 Meter lang, über zweieinhalb Meter hoch, umgeben von Informationskästen und Medienstationen. Direkt hinter der Berliner Philharmonie, in der Tiergartenstraße 4, erinnert seit heute ein neues Mahnmal an die Opfer der Euthanasiemorde während des Nationalsozialismus.
Zwischen 1940 und 45 wurde an diesem Ort unter dem Decknamen "T4" der Massenmord an Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten initiiert und koordiniert. Zwangssterilisiert und getötet wurden Menschen mit geistigen oder körperlichen Beeinträchtigungen, und solche die als "rassisch oder sozial unerwünscht" galten.
Rund 300.000 Menschen wurden bis Kriegsende insgesamt Opfer des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms. Die Gedenkstätte soll nicht nur an sie erinnern, sie soll auch informieren und aufklären. Kulturstaatsministerin Monika Grütters machte in ihrer Eröffnungsrede deutlich:
"Erinnerung ist aber noch mehr als das Andenken zu pflegen. An die Opfer der Aktion T4 zu erinnern, heißt auch der menschenverachtenden Unterscheidung zwischen lebenswert und lebensunwertem Leben die Überzeugung entgegenzusetzen, dass jedes menschliche Leben es wert ist, gelebt und geliebt zu werden."
Unter denen, die nicht leben durften, war auch Anna Lehnkering. Wegen einer geistigen Behinderung wird sie als Zwanzigjährige zwangssterilisiert, anschließend in die Psychiatrie Bedburg-Hau eingewiesen und 1940 im Alter von 24 Jahren in Grafeneck vergast.
Fürsorgliches Miteinander macht Gesellschaft lebenswert
Sigrid Falkenstein ist die Nichte von Anna Lehnkering und hat sich für das Mahnmal eingesetzt. Sie erfuhr selbst nur per Zufall von Anna Lehnkerings Leben und Schicksal. Keine Ausnahme: Denn selbst lange nach 1945 wurden die Opfer gesellschaftlich kaum wahrgenommen.
"Die Erinnerung an sie wurde nämlich ausgelöscht. Nicht nur in der Gesellschaft, sogar in ihren Familien. Zu groß war die Scham, zu sehr wirkte wohl das Stigma der angeblichen Erbminderwertigkeit nach."
Noch in den 1950er Jahren befand die Bundesregierung, dass das 1934 erlassene "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" nicht "typisch" für das NS-Regime gewesen sei, weshalb überlebenden Opfern oft keine Entschädigung zugestanden wurde.
Die Idee, es gäbe höher- und minderwertiges Leben ist heute gesellschaftlich geächtet. Völlig verschwunden ist sie nicht. Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit verwies deshalb auf das erst teilweise eingelöste Versprechen der Inklusion:
"Etwa zehn Prozent der Deutschen leben mit einer geistigen oder körperlichen Beeinträchtigung. Sie haben den Anspruch auf Förderung und auf ein gleichberechtigtes Leben inmitten der Gesellschaft. Diesen Weg müssen wir konsequent fortsetzen."
Denn erst das fürsorgliche Miteinander mache unsere Gesellschaft insgesamt lebenswert, so Wowereit.