Maike Weißpflug: "Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken"
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019
320 Seiten, 25 Euro
Welt ist, was umstritten ist
06:53 Minuten
Ein Buch erklärt Hannah Arendt neu: Es geht um den Begriff der Haltung, Politik als gemeinsamen Handlungsraum und schließlich auch um Welterschließung. Arendt plädiert dafür, fremde Perspektiven einzunehmen, ohne sie zu rechtfertigen.
Man kann Maike Weißpflugs Buch über das politische Denken Hannah Arendts nicht einfach so "rezensieren". So als stünde es auf der einen Seite, auf einem sicheren linksliberalen Schreibtisch, und die unsichere zerklüftete politische Welt auf der anderen, die man betritt, wenn man ebendiesen Schreibtisch verlässt.
Grunderfahrungen der Moderne
Klar, von jener sicheren Seite aus betrachtet führt die Autorin souverän durch Arendts politisches Denken, zeigt, wie sehr es aus den Grunderfahrungen der Moderne erwächst. Nicht zuletzt der Erfahrung des Holocaust, des Verlustes aller politischen, epistemologischen und moralischen Maßstäbe. Oder wie sich Arendts Urteile einer unabhängigen, ständig zwischen den Stühlen sitzenden Paria-Position verdanken, die es ihr ermöglichte, in radikaler Weise die Erfahrung von lebensweltlicher Pluralität zur Sprache zu bringen.
Dies alles würde dieses Buch bereits interessant und lesenswert machen. Allerdings kommt etwas hinzu: Man kommt gar nicht umhin, es unmittelbar mit der Welt jenseits des Schreibtisches in Beziehung zu setzen. Das nicht nur, weil die Autorin selbst eine Möglichkeit der Aktualisierung von Arendts politischem Denken für die Klimadebatte ins Auge fasst, sondern vor allem, weil Weißpflug dieses aus dem Begriff der "Haltung" entwickelt.
Kinder sollen nicht die Welt verbessern
Die Suggestionswirkung dieses Begriffs ist groß in Zeiten, in denen eine rechte, ja in Teilen rechtsextreme Partei sich anschickt, eine Volkspartei zu werden. Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen liegen die Prognosen für die AfD derzeit bei 20, beziehungsweise 25 Prozent der Stimmen. Da ist tatsächlich Haltung gefragt! Das sehen wir bei Demonstrationen und Debatten und müssen zugleich erleben, wie tief sich die politischen Kontrahenten in ihre ideologischen Schützengräben zurückgezogen haben, die harmlos formuliert "Filterblasen" genannt werden.
Wie sehr sich Hannah Arendts Haltung als Denkhaltung von einem simplen politischen Haltungsbegriff unterscheidet, ist der eigentliche Vorzug dieses ausgezeichneten Buchs. Exemplarisch wird das in Arendts Stellungnahme zu den Vorgängen in "Little Rock". 1954 hatte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in Washington die Rassentrennung an öffentlichen Schulen für verfassungswidrig erklärt. Drei Jahre später wurden in Little Rock in Arkansas neun afroamerikanische Schüler unter Polizeischutz in eine öffentliche Schule geführt, ein Spießrutenlauf auf der Grundlage unverbrüchlicher Rechte.
Eine politisch falsche Aktion, befand damals Hannah Arendt. Kaum einer ihrer Aufsätze wurde so scharf kritisiert wie dieser. "Sind wir heute", so fragt sich Arendt, "an einen Punkt gelangt, wo man von Kindern verlangt, dass sie die Welt verändern oder verbessern sollen?" Fast klingt das, als würde Arendt über die "Fridays for Future"-Bewegung sprechen.
Kämpfen um die Welt
Vorsichtig hatte Arendt darauf hingewiesen, dass Schule und Erziehung nicht die allerersten Bereiche seien, in den ein fundamentales und politisches Menschrecht auf dem Spiel stünden. Schon sagt der Aktivist in uns: "Doch! Gerade da!" Worum es Arendt aber dabei geht, und was Maike Weißpflug rekonstruiert, ist, dass durch solche Aktionen der politische Raum zerstört wird und eine gemeinsame Handlungswelt verloren zu gehen droht. Im Resultat werden nur die irrationalen rassistischen Vorurteile verfestigt.
Politik ist für Arendt stets der gemeinsame Handlungsraum. Welt sei, so Maike Weißpflug, für Arendt "politisch gesprochen, das öffentlich Wahrgenommene, das Geteilte, das erst erscheint, wenn es artikuliert wird, wenn darum gekämpft wird, es zu artikulieren, also allgemein gesagt: das, was umstritten ist." Das setzt nicht große Erzählungen oder Ideologien voraus, die einem bei der Betrachtung der politischen Wirklichkeit wie eine Brille auf der Nase sitzen, sondern die Erfahrung einer Handlungswelt mit all ihren hässlichen Widersprüchen und scheinbar unüberbrückbaren Gräben.
Es kann nicht darum gehen, andere zu erziehen
Als Theoretikerin beansprucht Arendt dabei keine privilegierte Stellung, von der aus der politische Diskurs normativ zu ordnen wäre. Zentral ist vielmehr der schmerzhaft offene Prozess des Verstehens, den man – und das klingt, als sei es dem linksliberalen Mainstream, zu dem der Autor dieser Besprechung unzweifelhaft gehört, ins Stammbuch geschrieben – nicht verkürzen dürfe. Dies schon deshalb, weil es in der politischen Welt nicht darum gehen könne, wie Arendt selbst sagt, "andere zu erziehen oder die öffentliche Meinung auf ein höheres Niveau zu heben". Fremde und mitunter feindliche Perspektiven verstehend einzunehmen, heißt eben gerade nicht, sie zu akzeptieren oder gar zu rechtfertigen.
Jedes psychologische Konzept des Verstehens wird dabei komplett eingeklammert zu Gunsten der denkerischen Erschließung der Welt, wie sie dem Anderen erscheint. Resultat der Denkhaltung, die Hannah Arendt einnimmt und die Maike Weißpflug lesenswert entfaltet, ist Welterschließung im politischen, im öffentlichen Raum.
Was dies für den Umgang mit rechten und rechtsextremen Positionen in der Sphäre gegenwärtiger Politik bedeuten könnte, kann man sich ungefähr vorstellen. Dass diese Positionen aber artikuliert und verstanden werden müssen, um für eine humane Lebenswelt handelnd Verantwortung zu übernehmen, scheint ein Gebot der Stunde.
Ohne Schmerz und Anstrengung ist das indes nicht zu haben.