Streambait-Pop ist bittersüß - und ein bisschen verrückt
Alice Merton, Julia Michaels und Maggie Rogers stehen für einen Sound, der auf Streamingdiensten gut funktioniert. Sie machen reduzierten Pop, die Stimme ist nah am Mikrofon: So entsteht Intimität, die zu den emotionalen Texten passt.
Die US-amerikanische Musikjournalistin Liz Pelly kritisierte kürzlich in einem Artikel den immer gleichen Sound populärer Playlists der Streamingdienste.
Ein Stil tauche besonders häufig auf, Liz Pelly nennt ihn "Streambait-Pop". So bezeichnet sie "eher langsame, auch mal traurige, melancholische Stücke", meist von Frauen gesungen, meist geht es um persönliche Themen. Meist können die Stücke einfach im Hintergrund dudeln, ohne aufzufallen, und sorgen so für möglichst viele Streams.
Eigenes Erleben in der Musikindustrie als Thema
Ein Beispiel dafür: Julia Michaels "Anxiety" - da geht es um ihre Angststörung. Ein Beispiel, dass mittlerweile sehr offen über psychische Probleme gesungen wird, auch im Mainstream-Pop.
Bei Julia Michaels ist ihre Angststörung eng verknüpft mit ihrem Erfolg als Songschreiberin für Britney Spears, Justin Bieber, Lady Gaga. Sie sagt, sie spüre einen unglaublichen Druck, und reflektiert diesen Druck sowie ihren Erfolg in ihren Songs. Es geht um ihr eigenes Erleben in der Musikindustrie, dem Bedürfnis, Erfolg zu haben und das wirkt sich natürlich auf den Sound aus.
Maggie Rogers wird für immer die sein, die den Sänger Pharrell Williams mit ihrer Musik zum Weinen gebracht hat. Vor drei Jahren ging ein Video viral, das eben genau diesen Moment einfängt, vermutlich die wichtigsten drei Minuten ihrer Musikkarriere. Das Stück, das die beiden gemeinsam in ihrer New Yorker Musikhochschule gehört haben, war "Alaska", geschrieben von Rogers - und Pharrell Williams war hin und weg. Maggie Rogers bringt den Typus Singer-Songwriter mit Pop zusammen, ähnlich wie Julia Michaels.
Drei Jahre später klingt "Alaska" schon eher gewöhnlich. Aber dieses Gefühl, dass mir da jemand direkt gegenübersitzt, und mir ganz lieblich etwas ins Ohr haucht, was wir jetzt eben auch bei vielen Streaming-Hits haben, das hat Maggie Rogers schon mitgeprägt, vielleicht sogar vorweggenommen:
Auch das ein Stück über eine Zeit, in der Rogers sich "verloren gefühlt hat" und über die therapeutische Wirkung davon, sich die Haare abzuschneiden.
Kalkuliert die Karriere aufbauen
"Musik ist mein Job", hat Maggie Rogers in einem Interview gesagt.Sie hat Musik studiert, mit dem Ziel, berühmt zu werden. Das ist prototypisch für viele junge Musikerinnen, dass sie – verstärkt durch soziale Medien – sehr kalkuliert ihre Karrieren aufbauen und die eigene Vermarktung genauso ernst nehmen, wie die Musik.
Die dritte Musikerin, die Anfang des Jahres ein Album veröffentlicht hat, ist die Deutsch-Kanadierin Alice Merton. Im Gepäck hat sie schon einen "Echo" und den "Preis für Popkultur" als beste Sängerin. Mit "No Roots" hatte sie einen internationalen Hit - ein autobiografisch, positiver Pop-Song über das Gefühl, verloren zu sein. Merton hat in England, Kanada und Deutschland gelebt, und sich nie irgendwo zu Hause gefühlt, das thematisiert sie in dem Song.
Bittersüßer Sound auch bei Merton: Depression, Heimatlosigkeit, Zweifel, Ängste - verpackt in einen sehr kraftvollen Song. Keiner wollte "No Roots" veröffentlichen. Also hat sie ihr eigenes Label gegründet und sich selbstbewusst leicht abseits des Streaming-Sounds positioniert.
Ihr Sound ist nicht ganz so glatt wie etwa der von Maggie Rogers, man hört tatsächlich, dass sie nicht mit großen Produzentinnen oder Produzenten zusammenarbeitet.
Wie lässt sich der Pop-Sound 2019 zusammenfassen?
Mainstream-Pop 2019 ist erstens offener für persönliche Themen, zum Beispiel psychische Probleme. Zweitens ist Mainstream-Pop 2019 sich sehr bewusst, dass er innerhalb eines Marktes stattfindet. Die Probleme innerhalb dieses Marktes werden in den Songs reflektiert.
Und drittens: Mainstream-Pop 2019 ist ein bittersüßer Sound, intim, ein bisschen verrückt - aber nicht zu verrückt.