Makabre Vorgänge
Der Schriftsteller Carlos Fuentes liebt Mysterien, schleichende Verwandlungen, den Übergang zwischen Dies- und Jenseitigem, das subtile Spiel mit Licht und Schatten. In sechs phantastischen Erzählungen folgt der Mexikaner seiner Obsession hier erneut. Wer gern durch Zwischenwelten und esoterische Breiten reist, wer Berichte über Zombies mag, lebende Tote, dem werden diese Geschichte gefallen.
Es geht rätselhaft zu in den jüngsten Erzählungen von Carlos Fuentes. Die Titelgeschichte ("Unheimliche Gesellschaft") schildert die beklemmenden Erlebnisse eines Exil-Mexikaners in der ihm fremden Neuen Welt. Alejandro, aufgewachsen in Paris als Sohn verarmter Gutsbesitzer, reist nach dem Tod der Eltern Richtung Heimat. Zwei Schwestern der Mutter nehmen in auf, skurrile altjüngferliche Wesen. Alejandro, 27, darf sich nicht zeigen; in seinem Zimmer entdeckt er Kinderkleider, Spielzeug und, schlimmer noch, ein Heft mit aufgedrucktem Titel: "Die Abenteuer eines französischen Knaben in Mexiko, von Alejandro de la Guardia. Die Seiten waren leer."
Während der streng rational erzogene Emigrant noch überlegt, wer hier verrückt sei, belauscht er einen makabren Dialog der Tanten: "Wie weise von unserer Schwester. Uns einen Toten zu schicken, um zwei Toten Gesellschaft zu leisten." - "Nicht so eilig, liebe Schwester. Er weiß es noch nicht." - "So zu sterben, von einer Straßenbahn überfahren." – "Entsetzlich! Und so jung. Mit elf Jahren ..."
Eine andere Geschichte ("Calixta Brand") schildert die unheilvolle Ehe zwischen einem begüterten Mexikaner und einer "Gringa" aus Minnesota. Esteban ist Ökonom bei Volkswagen, Calixta eine talentierte Dichterin. Neben der Schreibarbeit pflegt sie den paradiesischen Garten. Esteban, ein Macho alter Schule, fühlt mit der Zeit Neid, latente Demütigung ("Sie ist intelligenter als ich"). Eines Tages lähmt ein Schicksalsschlag die Frau und fesselt sie an den Rollstuhl. Jetzt demütigt er sie - bis Rettung naht, in Gestalt eines adonisgleichen Pflegers und Gärtners: Miguel, ein blonder Araber, schenkt der Kranken das, was sie am meisten entbehrte - Aufmerksamkeit. Am Ende bemerkt Ehemann Esteban ein Wunder: "Meine Frau in den Armen, stieg Miguel Asmá aus dem Garten zum Himmel auf." Ein Engel, dieser Araber, mit "riesigen Schwingen"; Esteban sieht die beiden vor der Silhouette der Vulkane, sieht sie die Hausdächer und das nahe Kloster überfliegen.
In einer dritten Erzählung ("Die Katze meiner Mutter") schildert Leticia - ein ältliches, frisch vermähltes Frauenzimmer - makabre Vorgänge im elterlichen Haus: Leticias Mann entpuppt sich als Wiedergänger eines Juden, der anno 1649 in Mexiko als Ketzer verbrannt wurde. Und all die Ratten und Mäuse, so zahlreich und plötzlich da unten im Patio, waren weitere Opfer der Inquisition.
"Der Theaterliebhaber" ist ein in London lebender Mexikaner irischer Abstammung; er verliebt sich in eine Unbekannte, die er allabendlich hinterm Fenster ihrer Wohnung sieht. Doch irgendwann ist sie verschwunden. Wenig später erlebt der Latino sie als "Ophelia" in einer "Hamlet"-Inszenierung. Jede Vorstellung schaut er sich an, bis er eines Abends aufspringt, um die fremde Schöne aus der Tragödie zu erretten. Die Zeitungen des Folgetages melden Ophelias Tod und den eines erregten Ausländers, der von Hamlet auf offener Bühne erstochen wurde.
In "Vlad" schließlich begibt sich der Ahnherr aller Vampire ins Exil - ausgerechnet nach Mexiko-Stadt.
Der Schriftsteller Carlos Fuentes, Jahrgang 1928, liebt Mysterien, schleichende Verwandlungen, den Übergang zwischen Dies- und Jenseitigem, das subtile Spiel mit Licht und Schatten. Wir verdanken ihm eindrucksvolle Texte (etwa "Chac Mool", "Verbranntes Wasser" oder "Der alte Gringo"), auch Denkanstöße ohne Zahl und vorwärts weisende Provokationen. Mexikos Mythen haben es dem Dichter angetan, die Dämonen der kolonialen Vergangenheit; in sechs phantastischen Erzählungen, entworfen mit routinierter Spannung und Gespür für dramaturgische Wirkung, folgt er seiner Obsession hier erneut.
Wer gern durch Zwischenwelten und esoterische Breiten reist, wer Berichte über Zombies mag, lebende Tote, wie sie derzeit zu Dutzenden durch Film und Literatur geistern, dem werden diese Geschichte gefallen.
Andere Leser stören sich vielleicht an all dem Übersinnlichen in einer Prosa, die sich etwas plakativ als Erbin des "magischen Realismus" zu erkennen gibt. Auffällig: Fuentes’ Vorliebe für blumige Wendungen, etwa im Porträt des Engels Miguel. "Sein blondgelocktes Haupt wirkte wie ein Helm aus nahezu unwirklich gekräuseltem Haar und kontrastierte stark mit seiner dunklen Haut, so wie auch sein vor Zärtlichkeit überströmender, sanfter Blick im Widerspruch zu einem Mund stand, der die Geringschätzung kaum verhehlen konnte." Insgesamt demonstriert der Altmeister jene bald schon übliche Nachlässigkeit von großen Autoren des Latino-"Booms" der Sechziger, die ihre Texte offenbar kaum mehr redigieren lassen.
Es gibt Konstanten bei Carlos Fuentes, eherne Topoi und Selbstbildnisse im Werk eines unbequemen Erzählers; diese Bilder aufzuspüren hinter dem künstlichen Nebel einer mit leichter Hand hingeworfenen Prosa, sollte selbst den kritischen Leser reizen: Der Autor als Archäologe bei Grabungen in Mexikos blutiger Geschichte. Als Wanderer zwischen Erster und Dritter Welt. Der Exilant, nach der Heimkehr geschockt vom Moloch Mexiko. Der Latino, der das Mestizentum als Fluch und Segen schildert. Manchmal, im Monolog einer Figur, hören wir auch den Menschenrechtler Fuentes, als Anwalt der Ureinwohner: "Wir sind überlegen. Warum? Früher nannte man uns Weiße ‚vernunftbegabt’, so als wären die Indios samt und sonders Idioten. Heute, da wir für Demokratie und Gleichheit eintreten, nennen wir sie ‚unsere indigenen Brüder’, aber wir verachten sie nach wie vor. Die Götzenstatuen in die Museen, die Indios als Lastenträger..."
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Carlos Fuentes: Unheimliche Gesellschaft. Sechs phantastische Erzählungen
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2006, 304 Seiten., 19,90 Euro
Während der streng rational erzogene Emigrant noch überlegt, wer hier verrückt sei, belauscht er einen makabren Dialog der Tanten: "Wie weise von unserer Schwester. Uns einen Toten zu schicken, um zwei Toten Gesellschaft zu leisten." - "Nicht so eilig, liebe Schwester. Er weiß es noch nicht." - "So zu sterben, von einer Straßenbahn überfahren." – "Entsetzlich! Und so jung. Mit elf Jahren ..."
Eine andere Geschichte ("Calixta Brand") schildert die unheilvolle Ehe zwischen einem begüterten Mexikaner und einer "Gringa" aus Minnesota. Esteban ist Ökonom bei Volkswagen, Calixta eine talentierte Dichterin. Neben der Schreibarbeit pflegt sie den paradiesischen Garten. Esteban, ein Macho alter Schule, fühlt mit der Zeit Neid, latente Demütigung ("Sie ist intelligenter als ich"). Eines Tages lähmt ein Schicksalsschlag die Frau und fesselt sie an den Rollstuhl. Jetzt demütigt er sie - bis Rettung naht, in Gestalt eines adonisgleichen Pflegers und Gärtners: Miguel, ein blonder Araber, schenkt der Kranken das, was sie am meisten entbehrte - Aufmerksamkeit. Am Ende bemerkt Ehemann Esteban ein Wunder: "Meine Frau in den Armen, stieg Miguel Asmá aus dem Garten zum Himmel auf." Ein Engel, dieser Araber, mit "riesigen Schwingen"; Esteban sieht die beiden vor der Silhouette der Vulkane, sieht sie die Hausdächer und das nahe Kloster überfliegen.
In einer dritten Erzählung ("Die Katze meiner Mutter") schildert Leticia - ein ältliches, frisch vermähltes Frauenzimmer - makabre Vorgänge im elterlichen Haus: Leticias Mann entpuppt sich als Wiedergänger eines Juden, der anno 1649 in Mexiko als Ketzer verbrannt wurde. Und all die Ratten und Mäuse, so zahlreich und plötzlich da unten im Patio, waren weitere Opfer der Inquisition.
"Der Theaterliebhaber" ist ein in London lebender Mexikaner irischer Abstammung; er verliebt sich in eine Unbekannte, die er allabendlich hinterm Fenster ihrer Wohnung sieht. Doch irgendwann ist sie verschwunden. Wenig später erlebt der Latino sie als "Ophelia" in einer "Hamlet"-Inszenierung. Jede Vorstellung schaut er sich an, bis er eines Abends aufspringt, um die fremde Schöne aus der Tragödie zu erretten. Die Zeitungen des Folgetages melden Ophelias Tod und den eines erregten Ausländers, der von Hamlet auf offener Bühne erstochen wurde.
In "Vlad" schließlich begibt sich der Ahnherr aller Vampire ins Exil - ausgerechnet nach Mexiko-Stadt.
Der Schriftsteller Carlos Fuentes, Jahrgang 1928, liebt Mysterien, schleichende Verwandlungen, den Übergang zwischen Dies- und Jenseitigem, das subtile Spiel mit Licht und Schatten. Wir verdanken ihm eindrucksvolle Texte (etwa "Chac Mool", "Verbranntes Wasser" oder "Der alte Gringo"), auch Denkanstöße ohne Zahl und vorwärts weisende Provokationen. Mexikos Mythen haben es dem Dichter angetan, die Dämonen der kolonialen Vergangenheit; in sechs phantastischen Erzählungen, entworfen mit routinierter Spannung und Gespür für dramaturgische Wirkung, folgt er seiner Obsession hier erneut.
Wer gern durch Zwischenwelten und esoterische Breiten reist, wer Berichte über Zombies mag, lebende Tote, wie sie derzeit zu Dutzenden durch Film und Literatur geistern, dem werden diese Geschichte gefallen.
Andere Leser stören sich vielleicht an all dem Übersinnlichen in einer Prosa, die sich etwas plakativ als Erbin des "magischen Realismus" zu erkennen gibt. Auffällig: Fuentes’ Vorliebe für blumige Wendungen, etwa im Porträt des Engels Miguel. "Sein blondgelocktes Haupt wirkte wie ein Helm aus nahezu unwirklich gekräuseltem Haar und kontrastierte stark mit seiner dunklen Haut, so wie auch sein vor Zärtlichkeit überströmender, sanfter Blick im Widerspruch zu einem Mund stand, der die Geringschätzung kaum verhehlen konnte." Insgesamt demonstriert der Altmeister jene bald schon übliche Nachlässigkeit von großen Autoren des Latino-"Booms" der Sechziger, die ihre Texte offenbar kaum mehr redigieren lassen.
Es gibt Konstanten bei Carlos Fuentes, eherne Topoi und Selbstbildnisse im Werk eines unbequemen Erzählers; diese Bilder aufzuspüren hinter dem künstlichen Nebel einer mit leichter Hand hingeworfenen Prosa, sollte selbst den kritischen Leser reizen: Der Autor als Archäologe bei Grabungen in Mexikos blutiger Geschichte. Als Wanderer zwischen Erster und Dritter Welt. Der Exilant, nach der Heimkehr geschockt vom Moloch Mexiko. Der Latino, der das Mestizentum als Fluch und Segen schildert. Manchmal, im Monolog einer Figur, hören wir auch den Menschenrechtler Fuentes, als Anwalt der Ureinwohner: "Wir sind überlegen. Warum? Früher nannte man uns Weiße ‚vernunftbegabt’, so als wären die Indios samt und sonders Idioten. Heute, da wir für Demokratie und Gleichheit eintreten, nennen wir sie ‚unsere indigenen Brüder’, aber wir verachten sie nach wie vor. Die Götzenstatuen in die Museen, die Indios als Lastenträger..."
Rezensiert von Uwe Stolzmann
Carlos Fuentes: Unheimliche Gesellschaft. Sechs phantastische Erzählungen
Aus dem Spanischen von Lisa Grüneisen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2006, 304 Seiten., 19,90 Euro