Malcom Gladwell: "Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden"
Aus dem Englischen von Jürgen Neubauer
Rowohlt Verlag, Reinbek 2019
384 Seiten, 22 Euro
Der Mensch im Wahrheitsmodus
06:34 Minuten
Gesellschaften brauchen Vertrauen, betont Malcom Galdwell. Auch um den Preis, dass Betrüger die Arglosigkeit ausnutzen. In spannenden Fallgeschichten zeigt er, wie der soziale Umgang miteinander funktionieren kann.
Im Juli 2015 wurde Sandra Bland in einer texanischen Kleinstadt angehalten, weil sie vergessen hatte zu blinken. Nach einem heftigen Wortwechsel nahm der Polizist sie fest. Sandra Bland erhängte sich in ihrer Zelle. Der erschütternde Vorfall bildet Auftakt und Schluss des neuen Buches von Malcolm Gladwell, es heißt "Die Kunst, nicht aneinander vorbeizureden". Darin wirft der Autor Fragen an der Schnittstelle von Psychologie, Kriminologie und Soziologie auf.
Vorurteile führen zu Fehlurteilen
Wie können Eltern sämtliche Warnsignale übersehen und Sporttrainer unbehelligt hunderte von Mädchen missbrauchen? Warum geriet die Studentin Amanda Knox unter Mordverdacht, obwohl sämtliche Indizien dagegen sprachen? Weshalb fühlte sich der britische Premierminister Neville Chamberlain 1938 nach einem persönlichen Treffen mit Adolf Hitler von der Idee beflügelt, den späteren Massenmörder um den diplomatischen Finger wickeln zu können, obgleich der in seinen Reden keinen Zweifel an seinen Ambitionen gelassen hatte?
In jedem Kapitel rollt der Autor eine neue Fallgeschichte auf und zeigt anhand verblüffender Details: Menschen leben grundsätzlich im "Wahrheitsmodus". Wir gehen davon aus, dass ein Fremder uns nicht totschlagen, sondern nach dem Weg fragen möchte, wenn er uns anspricht.
Mit Misstrauen muss rechnen, wer ungewöhnlich aussieht oder sich so verhält. Das wurde Amanda Knox zum Verhängnis, die schon in der Schule als schräger, aber harmloser Vogel galt. Doch wer freundlich Smalltalk macht, verbindlich wirkt und einem Blick nicht über Gebühr ausweicht, kann vom Wahrheitsmodus profitieren.
Ohne Vertrauensvorschuss geht es nicht
Die eingebaute Arglosigkeit ist Einfallstor für Betrug und Lügen – wäre es also besser, grundsätzlich zu misstrauen? Keinesfalls, unterstreicht Malcolm Gladwell: Ohne Vertrauensvorschuss kann keine Gesellschaft funktionieren.
Eben das zeigt sich an dem Fall der Afroamerikanerin Sandra Bland. Hinter der überbordenden Polizeigewalt in den USA steckt noch mehr als purer Rassismus, so der Autor in seiner spannenden Spurensuche. Hinzu kommt eine besondere Polizeitaktik, die ursprünglich für ein einziges – hochkriminelles – Stadtviertel in Kansas City entwickelt und dort sehr erfolgreich eingesetzt worden war. Ausnahmslos jede Person auf der Straße galt von vornherein als verdächtig und wurde von der Polizei hart in die Zange genommen.
Auf diese Weise ließen sich zahllose illegale Waffen und Drogenpäckchen aufspüren. Doch dann kopierten Polizeibehörden die Taktik bundesweit – und seitdem sehen sich selbst in verschlafenen Kleinstädten und ländlichen Gegenden normale Bürgerinnen und Bürger permanenter Verdächtigung ausgesetzt, werden körperlich in die Enge getrieben, beschimpft und angeschrien. Das Polizeihandbuch möchte es so.
Unsere Fähigkeit, in Fremde hineinzublicken, ist sehr viel begrenzter, als wir meinen, betont Malcolm Gladwell in seinem erhellenden und engagierten Buch. Darum ist ein achtsamer, um die eigenen Vorurteile wissender Umgang miteinander wichtig – und wir müssen dabei bleiben, von anderen immer das Beste anzunehmen.