Der gefährlichste Ort Westafrikas
Vor einem Jahr haben französische und afrikanische Truppen den Norden Malis von Islamisten befreit. Doch von Frieden kann noch immer keine Rede sein. In Gao, das lange von den Islamisten besetzt war, erwacht langsam der normale Alltag - aber ein paar Kilometer weiter kann niemand mehr für Sicherheit garantieren - weder die französischen noch die malischen Soldaten und erst recht nicht UN-Blauhelme.
Halb fünf Uhr morgens am Checkpoint einer Militärkaserne in Gao, Nordmali. Im Schein von Taschenlampen huschen verschlafene Gestalten mit abgewetzten Kalaschnikow-Gewehren an uns vorbei, sie tragen grüne Uniformen, Schals und Wollmützen. Hier am Rande der Wüste ist es kalt um diese Uhrzeit.
Mit einer Eskorte der malischen Armee wollen wir im Geländewagen nach Kidal: 300 Kilometer durch den Sahel nach Norden, ins Epizentrum der Mali-Krise.
Die Situation in Kidal sei prekär, sagt der Kommandoführer von Gao, ein hagerer Oberst mit starrem Blick. Er schüttelt meine Hand zum Abschied, seine Augen verfinstern sich. Alles Schlechte dieser Welt sei in Kidal versammelt: Islamisten, Tuareg-Separatisten, Drogenhändler. Die Stadt könne jeden Moment explodieren. Vor gut einem Jahr haben französische Einheiten den Norden Malis befreit, und dennoch kommt dieses riesige Gebiet nicht zur Ruhe.
"Nach dem Vertrag von Ouagadougou sollten die MNLA-Rebellen längst entwaffnet und kaserniert sein. Das ist bis heute nicht der Fall. Stattdessen machen sie mit diesen selbst ernannten Gotteskriegern gemeinsame Sache, die MNLA sind die Paten der Islamisten! Das muss die Internationale Gemeinschaft doch langsam begreifen, anstatt sich weiter betrügen zu lassen! Ansar Dine, die radikalislamischen Tuareg, die sind immer noch da, sie haben beste Drähte zu den MNLA-Rebellen, und damit auch zu Al Kaida. Und dann muss der malische Staat sich mit diesen Leuten hinsetzen und soll verhandeln. Das ist eine Farce!"
Mehr als zwanzig malische Soldaten legen ihre Schusswesten an, setzen Helme und Sturmbrillen auf, verteilen sich auf drei tarnfarbene Pick-Up-Geländewagen. Auf den Ladeflächen sind großkalibrige Haubitzen montiert. Die Männer überprüfen ihre Waffen. Die nächsten Stunden werden sie im staubigen Fahrtwind verbringen. Wir reihen uns in die Kolonne ein, vor uns ein Wagen, hinter uns zwei. Ich drücke mich in den Rücksitz und wünsche mir, ich wäre unsichtbar. Ich trage Ich trage einen beigefarbenen Turban, weite Kleidung und sehe aus wie ein Tuareg. Ein lächerlicher Versuch, nicht sofort als Ausländer aufzufallen, als Toubab.
Geländewagen mit zwielichtigen Gestalten
Die Sonne geht auf und taucht die endlos weite Landschaft erst in zartrosa Pastell, dann in metallisches Weiß. Wir sind auf der wichtigsten Route der Schmuggler unterwegs, begegnen völlig überladenen Lkw aus Algerien und Geländewagen mit zwielichtigen, turbanvermummten Gestalten. Vielleicht transportieren sie Zigaretten, Kokain oder Waffen, oder alles gleichzeitig. In dicke Staubwolken gehüllt rasen wir im Militär-Konvoi über die Sandpisten, vorbei an zerfetzten Autoreifen, Kadavern von überfahrenen Schafen und Ziegen. Steckenbleiben ist keine gute Idee, anhalten sollte man hier so wenig wie möglich.
Die Strecke ist teilweise vermint, bewaffnete Banditen überfallen immer wieder liegengebliebene Fahrzeuge. Vor kurzem wurden am Rande eines Wochenmarktes zwei Dutzend Frauen und Kinder exekutiert, ein komplettes Team des Roten Kreuzes ist spurlos verschwunden - für die Entführung hat Al Kaida die Verantwortung übernommen.
Nach ein paar Stunden erreichen wir Kidal. Wie in einer Mondlandschaft liegt die ockerfarbene Lehm-Stadt eingebettet im schwarzen Fels des Ifoghas-Gebirges. Das perfekte Rückzugsgebiet für Terroristen, denke ich, als unser Konvoi sich an einem riesigen schwarzen Monolithen vorbeischlängelt: KIDAL steht darauf in großen weißen Buchstaben, auf einem anderen Stein sehe ich die Fahne von Azawad: grün, rot, schwarz, mit dem gelben Dreieck an der Seite. Auch wenn die UN-Friedenstruppe MINUSMA hier Truppen stationiert hat, auch wenn die malische Armee über eine Kaserne verfügt - hier hat nicht der malische Staat die Kontrolle, hier regiert die Tuareg-Befreiungsbewegung MNLA.
Die staubige Stadt scheint wie leergefegt. Es ist später Nachmittag, Marktzeit, aber fast alle Stände und Geschäfte entlang der Hauptstraßen sind geschlossen, Kinder gehen noch immer nicht zur Schule - die Tuareg-Rebellen halten die Schulgebäude besetzt. Immer noch leben viele Kidal-Bewohner in Flüchtlingslagern - jenseits der Grenze in Burkina Faso.
"Wir leben hier in einer Geisterstadt. Niemand traut sich aus dem Haus. Wir haben große Angst. In Kidal gibt es viele schwer bewaffnete Gruppen, alle belauern sich. Kidal ist ein Pulverfass - es kann jeden Moment hochgehen. Es ist ja schon so viel passiert."
Tiefolo Coulibaly zittert beim Interview. Er ist einer der wenigen, die sich überhaupt vor dem Mikrofon äußern wollen. Er kommt aus Kidal, arbeitet für eine Hilfsorganisation. Er hat hier die Zeit unter den Islamisten von Ansar Dine erlebt, den radikalislamischen Tuareg, dann die Befreiung durch die Franzosen, und schließlich den Einmarsch der MNLA. Ganz offensichtlich sei die MNLA von Frankreich in den Sattel gehoben worden, erklärt Coulibaly. Und jetzt halte die "Grande Nation" ihre schützende Hand über die Tuareg.
"Wir sind enttäuscht von Frankreich"
"Wir sind sehr enttäuscht von Frankreich, wir fühlen uns verraten. Die Franzosen haben mit ihrem Militäreinsatz den Weg freigebombt und die Islamisten verjagt, und dann durften sich die Tuareg-Rebellen hier breitmachen - nur weil Frankreich sich Hilfe bei der Befreiung von Geiseln verspricht, weil es unsere Bodenschätze will, weil es sich einwickeln lässt von diesen Leuten. Das ist inakzeptabel. Früher hieß es, Frankreich gehe keinen Kuhhandel mit Verbrechern ein, aber heute sind genau diese Verbrecher hier."
Coulibaly ist wütend auf Frankreich. Die Zeit, in der Frankreichs Präsident mit Dank überschüttet und liebevoll "Papa Hollande" genannt wurde, ist in Kidal definitiv vorbei. Frankreich habe Mitschuld an der Gewalteskalation im Norden Malis und am Zusammenbruch des Staates, sagt Coulibaly. Frankreich habe keine Freunde - sondern nur Interessen.
Fakt ist: Anders als oft behauptet, hat sich die Lage in Kidal nicht verbessert, seit Frankreich die Islamisten bis ins Ifoghas-Gebirge vertrieben hat. Dschihadistische Gruppen sind zwar in der Masse von der Bildfläche verschwunden - aber sie haben sich nur in kleinere Einheiten verwandelt - als Trittbrettfahrer der Tuareg. Ein Selbstmordattentäter hat vor der Bank von Kidal senegalesische MINUSMA-Soldaten mit in den Tod gerissen, französische Truppen haben gerade erst ein Lager mit Tonnen von Ammoniumnitrat entdeckt - und ein Trainingslager, das kurz zuvor noch benutzt worden war.
Der Gouverneur von Kidal kann kaum in der Stadt arbeiten, er hat kein richtiges Büro und muss rund um die Uhr bewacht werden. Jederzeit kann es zur Eskalation von Gewalt zwischen Rebellen und der kasernierten malischen Armee kommen. Schon das Tragen eines T-Shirts mit den malischen Nationalfarben ist inzwischen lebensgefährlich. Einwohner von Kidal werden umgebracht, nur weil sie zu anderen ethnischen Gruppen wie den Songhay oder den Peul gehören.
In einem dreckigen Hinterhof sitzen Frauen in bunten Kleidern auf niedrigen Schemeln. Auf einer Feuerstelle kochen sie Bananen in einem großen Topf, ein kleiner Junge spielt mit schmutzigem Geschirr.
Wenigstens sei es seit ein paar Tagen etwas ruhiger, erzählt Fatoumata, während ihre Freundin Zara Bananenscheiben in heißem Öl frittiert: Endlich mal eine Nacht ohne Schießereien. Denn normalerweise klinge das in Kidal trotz Ausgangssperre so:
"Wir wussten hier nicht, was Krieg ist. Es war hier immer friedlich, bis das hier alles losging. Und jetzt können wir vor lauter Angst kaum noch atmen."
Es sei mittlerweile unmöglich, noch zwischen Tuareg-Rebellen und Islamisten zu unterscheiden, sagt Fatoumatas Nachbarin Bintou: Die Kriminellen wechselten ihre Hüte, wie es ihnen passt.
"Heute sind sie Al Kaida, morgen sind sie MNLA-Rebellen, übermorgen gehören sie zum Hohen Rat für die Einheit von Azawad. Und dann, wer weiß, vielleicht sitzen sie eines Tages in der Regierung?"
In Kidal sind alle Einwohner bewaffnet
Die Macht über Kidal liegt im extrem gefährlichen Viertel von Aliyou. Hier sind alle Einwohner bis an die Zähne bewaffnet, die malische Armee traut sich dort nicht hinein. Hier stehen die Häuser von Iyad Ag Ghaly, dem ehemaligen Anführer der radikalislamischen Tuareg-Gruppe Ansar Dine, und von Alghabass Ag Intallah, Gründer der "Islamischen Bewegung für Azawad". Vor vielen Jahren ging von diesem Ort der Kampf der malischen Tuareg für Freiheit und Mitbestimmung aus - heute scheint dieser Aufstand völlig degeneriert.
"Die MNLA-Leute haben hier unvorstellbare Verbrechen begangen. Ich wage es nicht, darüber zu reden, was sie getan haben. Diese Rebellion der Tuareg hatte am Anfang noch ein ganz anderes Ziel. Es sind nicht unbedingt die Islamisten, die böse sind. Unter ihnen gab es kaum Entführungen, Diebstähle oder Vergewaltigungen. Sie waren streng, aber sie waren korrekt. Aber die MNLA - die haben uns geschlagen, bestohlen, entführt, sie sind es, die unsere Schwestern, Töchter, Mütter in Massen vergewaltigen, sie sind es, die uns hier töten. Sie sind die wahren Terroristen!"
Tiefolo Coulibaly von der Hilfsorganisation in Kidal kann sich kaum noch vorstellen, wie die malische Regierung mit den MNLA jemals eine politische Lösung finden will - und über was eigentlich verhandelt werden kann. Nach dem Abkommen vom letzen Sommer in Ouagadougou sollten die MNLA längst ihre Waffen abgegeben haben und kaserniert sein, nichts davon wurde erfüllt.
"Es ist immer gut, mit Leuten zu reden, die bereit sind, etwas für unser Land zu tun. Aber in unserem Fall in Kidal weiß ich nicht, warum man mit Kriminellen verhandeln soll, mit Aufständischen, denen jedes Mittel recht ist, um Macht und Einfluss zu wahren und Menschen zu terrorisieren. Das sind doch Leute, die kein Interesse an einer stabilen Zukunft Malis haben."
Genau das ist die Frage - wer nämlich überhaupt ein echtes Interesse hat an einer stabilen Zukunft im Norden Malis. Auch bei Frankreich sind sich die Menschen im Norden Malis nicht mehr sicher. Sie fragen sich, warum die Grande Nation eine so unhaltbare, so explosive Situation stützt, und welche Interessen dahinter stehen? Politische? Wirtschaftliche? Die Menschen wollen auch wissen, wie lange die malische Armee noch still halten und sich von Frankreichs Operation Serval diktieren lassen will, wann sie in der Gegend patrouilliert? Racheakte an der arabisch stämmigen Bevölkerung wären vorprogrammiert, wenn malische Soldaten in Kidal gegen die MNLA kämpfen.
All diese Szenarien dürften wohl auch die französischen Kollegen Ghislaine Dupont und Claude Verlon durchgespielt haben. Die Journalisten von Radio France Internationale hatten im Juli 2013 von Krisenherd Kidal aus über die Präsidentschaftswahlen berichtet, im November 2013 kamen sie wieder nach Kidal - eskortiert von Blauhelmsoldaten. Nach nur einer Stunde in der Stadt waren sie tot. Vielleicht, so vermuten Zara und Bintou, haben sie die falschen Fragen gestellt,
"Ghislaine und Claude kamen hier an, es war ein Samstagmittag, und sie waren sehr froh, nach dem letzten Besuch im Sommer wieder hier zu sein, sie wollten einen Hammel kaufen, am Abend sollte es Couscous für alle geben, zur Feier des Tages. Dann haben sie bei Zara Omelettes bestellt und sind schnell wieder aufgebrochen, um draußen kurz noch ein Interview zu machen. Sie wollten nach einer Viertelstunde wieder hier sein und zu Mittag essen. Wir haben gewartet und gewartet - vergeblich. Dann rief uns der Kabinettschef des Gouverneurs an und sagte nur einen einzigen Satz: "Zara, sie haben die beiden umgebracht.""
Der französiche Geheimdienst hatte die Finger im Spiel
Auch Ghislaine und Claude hatten im Viertel Aliyou recherchiert. Nach einem Interview mit einem wichtigen MNLA-Anführer wurden sie verschleppt - und offenbar in der Wüste vor Kidal erschossen. Frankreich macht Al Kaida für die Tat verantwortlich. In Kidal munkeln jedoch viele, der französische Geheimdienst könnte seine Finger im Spiel gehabt haben.
In der Nacht mache ich kein Auge zu. Ich liege in einem Verschlag aus Lehmziegeln und Beton, dem einzig sicheren und bewachten Ort in der Stadt. Genau hier haben auch Ghislaine Dupont und Claude Verlon übernachtet.
Am nächsten Morgen krähen nicht einmal die Hähne. Dafür lauern in der Stadt die "Indicateurs", die Spione auf ihren Motorrädern, auf der Suche nach neuer Ware - nach Entführungsopfern.
Unsere Eskorte tritt den Rückweg an - 300 Kilometer nach Süden - über die Sandpisten des Sahel. Am Ortsausgang von Kidal sehe ich Stofffetzen und Reste eines Motorrads: Hier hatte sich vor ein paar Tagen ein Dschihadist in die Luft gesprengt - vor dem Checkpoint der senegalesischen UNO-Soldaten.